Lorena

Ökodorf Sieben Linden als Modellprojekt ? – Viele Fragen.

Bewusstsein für die Weltkrise(n) und Interesse, daran etwas zu verändern ist ein geteilter Wert zwischen Menschen, die hier in Sieben Linden leben. Durch unsere Art des Zusammenlebens und unsere gemeinsamen Werte versuchen wir ein “Modellprojekt” zu sein. Aber was bedeutet das konkret? Welche Verantwortung übernehmen wir, wenn wir sagen, dass wir ein Modellprojekt sind? Sind wir nur dann ein Modellprojekt, wenn wir einen kleinen Schritt machen, um unsere Traumwelt zumindest in unserer dorf-internen Welt fassbarer, spürbarer und lebendiger zu machen? 

Der gemeinsame Wert, der uns hier im Ökodorf verbindet, ist eine ökologisch-nachhaltige Lebensweise. Wie wir diesen Wert wiederum ausleben, ist schon unterschiedlich: einige viel konsequenter (radikaler, würde meine Mama sagen) als andere. Wie ist es mit  Solidarität…? Wieso sollte das jetzt Teil unserer Werte sein? Was verstehen wir unter Gerechtigkeit? Das waren einige von den Fragen, die wir in unserer letzten Ökonomie-Intensivzeit bewegt haben. Die Haltungen unserer Gemeinschaftsmitglieder waren weit gefächert: Von Kommentaren wie “Leute sollten doch mehr arbeiten, wenn sie mehr Geld haben wollen”, oder “Leute sollten doch außerhalb arbeiten, um einen besseren Lohn zu haben” über eine teils ausgesprochene Erwartung, dass Menschen in Sieben Linden maximale Zeit und Bereitschaft zusätzlich haben sollten, unsere gesamten Dorfstrukturen durch Ehrenamt am Laufen zu halten bis hin zu dem Wunsch, bedürfnisorientiert Geld und Arbeit zu verteilen, war alles dabei. Ich durfte in den letzten Wochen immer mal neu lernen und vielleicht sogar neu benennen, was es bedeutet, in Gemeinschaft zu leben. Und dadurch für mich neu erkennen, warum ich in so einem Modellprojekt lebe.   

Die folgenden Zeilen (hauptsächlich in Form von Fragen) sind ein Versuch, meine innere Welt mit der äußeren Welt – euch Leser:innen – zu teilen. 

Wer ist besonders wirksam?

Einige arbeiten viel mehr als andere. Anders gesagt, einige sind viel wirksamer als andere. Das ist doch für alle klar. Aber wer ist es? 

  • Sind es die, die in der Region arbeiten und dadurch die Verbindung zur normalen Welt nicht verlieren, aber am Ende des Tages so platt zurückkommen, dass sie gar keine Energie oder Kapazität fürs Projekt haben?
  • Oder die, die seit Jahren für niedrige Löhne ausschließlich fürs Projekt arbeiten, und ihr privates und berufliches Leben nie so wirklich getrennt kriegen?
  • Sind es diejenigen, die kleine Kinder durchs Leben begleiten und sich teilweise übers Amt finanzieren?
  • Oder auch diejenigen, die das Privileg haben, ein großes Erbe oder Vermögen zu haben und es sich leisten können, alles ehrenamtlich zu machen?
  • Sind es diejenigen, die hier einen ausreichend sicheren Ort gefunden haben, um sich ihre inneren Themen anzuschauen, sie zu verarbeiten und es dadurch schaffen, in ihrer inneren Welt viel zu bewegen und damit einen Schritt in Richtung innerer Heilung zu gehen?
  • Oder diejenigen, die es immer wieder schaffen, neue Ideen ins Projekt reinzubringen? 
  • Sind es diejenigen, die das System Sieben Linden durch ihren Einsatz so smooth am Laufen halten, dass andere Menschen Zeit haben, sich schlaue Ideen zu überlegen?
  • Vielleicht auch diejenigen, die auch dann, wenn sie nicht in Sieben Linden wohnen würden, ein großes Engagement für die Welt hätten – also “anderswo genauso wirksam sein könnten”…?   

“Das müssen wir uns doch gar nicht fragen, wir brauchen ein bisschen von allem, damit das gesamte System funktioniert. Alles ist wichtig!” sagen mir meine weisen Freund:innen, wenn ich damit anfange, uns zu vergleichen und dadurch zu beurteilen. Und vielleicht stimmt es, aber Frieden mit uns selbst und anderen gibt es nur dann, wenn wir diesen Satz wirklich glauben. Und das gelingt uns (oder mir) nicht immer.

Wie schaffen wir es, unsere Arbeit gegenseitig wertzuschätzen? Wie schaffe ich es, dass das was du machst, dass ich die Art wie du dich einbringst, so relevant finde, wie das, was ich mache – obwohl ich deine Art nie als eigenen Weg wählen würde? Vielleicht sollte ich gerade deswegen deinen Weg wertschätzen?   

Ist es relevant sich diese Fragen zu stellen? Nehmen wir uns zu wichtig, wenn wir uns Zeit dafür nehmen, unser selbstorganisiertes System zu beobachten?   

Was bedeutet es, Modellprojekt zu sein?

Wenn wir uns diese Fragen stellen, sind wir dann ein Haufen von egoistischen Menschen, die sich nur ein schönes Leben in ihrer kleinen Blase kreieren wollen? Vielleicht gibt es ein paar Menschen im Projekt, für die dieses schöne Leben das größte Ziel ist und die deshalb hier sind. Aber Bewusstsein für die Weltkrise(n) und Interesse, etwas zu verändern, ist (meiner Wahrnehmung nach) auch ein geteilter Wert zwischen Menschen, die hier im Projekt leben. Durch unsere Art von Zusammenleben und unsere geteilten Werte versuchen wir, ein “Modellprojekt” zu sein. Aber was heißt das? Und was bedeutet das konkret?

  • Sind wir ein Modellprojekt, wenn wir es schaffen, unseren Fußabdruck zwei Drittel kleiner als es der Durchschnitt in Deutschland ist, zu halten? Sind wir dann ein Modellprojekt für die Welt – oder für Deutschland?  Wären wir nur dann ein Modellprojekt, wenn wir es schaffen würden, einen Fußabdruck zu hinterlassen, der so klein ist, dass alle auf dem Planeten dauerhaft so leben könnten?
  • Sind wir ein Modellprojekt, auch wenn es ganz schön teuer ist, unsere Häuser zu bauen? Wie soll so ein ökologisches, ja – aber auch teureres Haus gebaut werden in einem Land, wo viel weniger Kapital und Fördermittel zur Verfügung stehen? Ist es ok, dass wir nur in einem sehr ortsspezifischen Rahmen ein Modell sein können?
  • Sind wir ein Modellprojekt, obwohl so viel „nur“ durch Ehrenamt geschafft wird, und das in der “Außenwelt” gar nicht wirtschaftlich wäre? Für diese Frage ist meine Antwort ein ganz klares Ja, weil ich mir wünsche, dass wir uns von den kapitalistischen Gedanken, die uns prägen mehr und mehr trennen. Aber ist es dann in einem großen Maßstab umsetzbar? Inwieweit könnten wir das, was wir hier haben, woanders reproduzieren, wenn an anderen Orten vor allem durch die ökonomische Brille geschaut wird?
  • Sollen wir es schaffen, maximale Solidarität und Gerechtigkeit zwischen uns zu leben? Oder sollten wir nicht eher schauen, wie wir einen Beitrag leisten könnten, um die historisch geprägten krassen Ungleichheiten zwischen globalem Norden und Süden auszugleichen? Wenn wir uns den projektinternen Stundenlohn anschauen, liegen die Menschen, die fürs Projekt arbeiten mit ihrem Lohn unterhalb der deutschen Armutsgrenze. Vermutlich ist die Lebensqualität, die wir hier im Projekt leben höher als die der meisten, die in der „Außenwelt“ unterhalb der Armutsgrenze leben. Und wenn wir den Blick auf die Welt lenken, dann gehören die Menschen, die in Deutschland Mindestlohn verdienen immer noch zu dem reichsten Teil der Bevölkerung weltweit. Was müssten wir in diesem Thema bewegen, um ein Modellprojekt zu sein?
  • Sind wir nur dann ein Modellprojekt, wenn wir es schaffen, unsere unterschiedlichsten Perspektiven unter einen Hut zu kriegen? Wenn wir es schaffen, trotz der zahlreichen und unterschiedlichen Meinungen, in Kontakt und Frieden zu bleiben? Wenn wir einen kleinen Schritt machen, um unsere Traumwelt zumindest in unserer dorfinternen Welt fassbarer, spürbarer und lebendiger zu machen? 
  • Sind wir ein Modellprojekt, obwohl wir am Ende des Tages die gleichen Dynamiken von der Welt reproduzieren und wir feststellen, dass wir genau so Mensch sind, wie alle anderen auf dieser Welt, wir bereit sind, nach neuen Antworten auf diese Herausforderung zu suchen und diese auszuprobieren? Weil wir neugierig und bereit sind, den Umgang miteinander trotz unserer Konflikte weiter zu erforschen?

Welche Verantwortung tragen wir als „Modellprojekt“?

„Preguntando caminamos. Fragend schreiten wir voran.“

Was für eine Verantwortung übernehmen wir, wenn wir sagen, dass wir ein Modellprojekt sind? Sind wir nur als Inspiration da? Um eine Utopie im echten Leben zu zeigen? Oder sollen wir reproduzierbare Strukturen aufbauen, die woanders in unterschiedlichsten Kontexten auch übernommen werden könnten? Reproduzieren wir nicht historische Machtdynamiken, wenn wir “der Welt” zeigen, wie man eigentlich leben sollte? Bewegen wir was in der Welt/Deutschland/lokalen Politik mit unserem Hiersein? Bedeuten wir als Projekt was, wenn wir keinen direkten Effekt in der lokalen oder regionalen Politik haben? Und wieviel unserer Zeit und Aufmerksamkeit braucht unser Projekt, um ein hoffnungsvolles Beispiel zu bleiben? Wird unsere Zeit und Aufmerksamkeit gerade nicht eher in der Welt gebraucht? Wie schaffen wir es, ausreichend Zeit und Aufmerksamkeit in unser Projekt zu stecken, um uns weiterzuentwickeln, und trotzdem das nicht als Ausrede zu nutzen, um hier völlig einzutauchen und den Blick für das große Ganze zu verlieren? Inwiefern braucht die Welt Projekte wie Sieben Linden? Wenn die Welt, so wie sie gerade organisiert ist zusammenbricht, werden Projekte wie Sieben Linden dann wichtig sein? Werden wir dann einen größeren Wandel im Ganzen schaffen, weil genug Erfahrungen in kleinen Blasen über mehrere Jahre hinweg schon gesammelt wurden?

Für mich bedeutet Modellprojekt gerade etwas wie ein gesellschaftliches Forschungsprojekt. “Living Lab” könnte man auch sagen. Ein Forschungsprojekt, in dem die Forschenden und das Forschungsobjekt teilweise identisch sind. Ein Forschungsprojekt, das noch nicht abgeschlossen ist. Ein Projekt, in dem viele Fragen immer wieder auftauchen, und wir zusammen im Gehen auf die Antworten kommen. Wann genau ich die Antworten auf alle meine Fragen haben werde, kann ich euch leider gerade noch nicht sagen. Wie auch die Zapatistas sagen würden: „Preguntando caminamos. Fragend schreiten wir voran.“

Geschrieben von Lorena Castro, der einzigen Mexikanerin im Projekt. 

Das könnte Dich auch interessieren...