Zwei gezeichnete Figuren reichen sich die Hand über einer Schlucht, die zwischen ihnen ist

Corona-Aufarbeitung und Entpolarisierungs-Arbeit im Ökodorf

Im November 2024 haben wir unsere interne Intensivzeit der Aufarbeitung der Coronazeit gewidmet. Fragst du dich, wie die Aufarbeitung eines solch aufgeladenen Themas möglich ist? Oder bist du auch besorgt über die Polarisierungs- und Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft? Dann könnte dieser Artikel von Emil Allmenröder für dich interessant sein. Emil hat mit Yasmina Steck unsere Corona-Aufarbeitung moderiert und teilt hier seine Gedanken und Geschichten zur Entpolarisierungsarbeit.

HIER geht es zum Podcast Corona-Aufarbeitung mit Yasmina Steck.

Corona-Aufarbeitung im Ökodorf – Was für eine Aufgabe

Corona-Aufarbeitung, Entpolarisierung und Stärkung der Konfliktfähigkeit – mit diesem Auftrag waren Yasmina Steck und ich, Emil Allmenröder, zur 6-tägigen Intensivzeit im November 2024 ins Ökodorf Sieben Linden eingeladen worden. 

Schon im Moment der Anfrage, konnte ich die Besonderheit und die Herausforderung dieser Aufgabe spüren. Einerseits: Ganze sechs Tage Zeit für eine Konfliktklärung. Davon kann ich bei vielen Prozessbegleitungen nur träumen. Andererseits: Eine Gemeinschaft mit ihren vielfältigen, komplexen und tief eingeschliffenen Dynamiken. Knapp 100 Menschen, von denen viele nur einen Teil der Zeit dabei sein können, so dass jeden Tag neue, wechselnde Konstellationen an Menschen, im Raum sitzen. Dazu all diese verschiedensten, persönlichen, zwischenmenschlichen und strukturellen Themen, die in jede Situation mit hineinwirken. Konflikte, die teilweise schon seit Jahren im Untergrund gären.

(Liebes-)Beziehungsgeflechte, die kein Mediator so schnell überblicken und verstehen kann. Und dann natürlich auch noch so viele, viele gruppenleitungserfahrenen Menschen, denen es meistens schwerer fällt, anderen die Leitung zu überlassen. Da kann der Traum auch schnell zum Albtraum werden. Auf jeden Fall ist das Leiten von Gemeinschaftsprozessen oftmals die herausfordernde Königsdisziplin unter den Mediations- und Moderationsaufgaben. (Nur eine Sache ist noch schwieriger: Das Leiten von Gemeinschaftsprozessen in der eigenen Gemeinschaft)

Die Büchse der Pandora

Und dann auch noch das Thema: Corona-Aufarbeitung. Selbst wenn ich das Wort nur lese, kann ich geradezu  spüren, wie der Herzschlag der Umgebung für einen Moment aussetzt und das Licht kurz runter gedimmt wird, bevor ein allgemeines Räuspern, leises Stöhnen und Augenverdrehen einsetzt. Und dann alle wieder ganz beschäftigt weiter machen, was sie zuvor gemacht haben. Corona ist sozusagen die neueste Büchse der Pandora unter den kollektiven Konfliktthemen und viele würden eine solch explosive Büchse lieber geschlossen halten. So . auch der deutsche Bundestag, der wenige Wochen vor der Intensivzeit, wieder einmal beschlossen hat, dass es keinen Bürgerrat zur Corona-Aufarbeitung geben wird und auch keine sonstige offizielle politische Aufarbeitung der Coronazeit.

Deckel auf die Büchse und ab in den Keller damit. Ich als Mediator finde das absolut verständlich. Wenn auch kein bisschen sinnvoll. Um so mehr freute ich mich darüber, dass Sieben Linden diesen Schritt gehen wollte. Wenn schon nicht der Bundestag, dann eben das Ökodorf. Irgendjemand muss ja vorangehen und zeigen, dass es geht. Und eine Gemeinschaft kann sich eben auch keine solche verschlossene Büchse im Keller leisten, weil bei einem so dichten Zusammenleben sowieso ständig jemand darüber stolpert: „Oh, bist du erkältet. Hast du schon einen Corona-Test gemacht?“ oder „Bist du eigentlich geimpft?“ usw. Und schon sind die alten Wunden, an die eigentlich keiner mehr denken wollte, wieder da, die Nervensysteme fahren in Sekundenschnelle hoch und alle sitzen plötzlich erstarrt und angespannt da und hoffen, das jetzt niemand eine falsche Bewegung macht. 

Das ganze Feld an Polarisierungen

Das Corona-Thema hat es auf jeden Fall in sich. Und bei der Vorbesprechung mit dem Vorbereitungsteam aus Sieben Linden wurde deutlich, dass es eigentlich nicht nur um Corona, sondern um verschiedenste Polarisierungsthemen geht: „Seit der Corona -Zeit merken wir, dass es bei vielen Themen viel stärker diese Polarisierungs- und Spaltungstendenzen gibt. Über vieles können wir gar nicht mehr reden, ohne das gleich die Gemüter hochfahren und es zwei konträre Seiten gibt. Es wäre toll, wenn sich da auch etwas tun würde und wir lernen könnten, da wieder besser und konfliktfähiger miteinander umzugehen “ „Ok. Und wo genau zum Beispiel tauchen diese Polarisierungstendenzen bei euch auf?“ „Also zum Beispiel in Bezug auf Ukraine/Russland, Israel/Palestina, AFD, Rechts/Links und in Bezug auf Gender-Debatte.“

Also einmal alles bitte. Das ganze Minenfeld an Themen, das derzeit auch die Gesellschaft spaltet. Selbst an sechs Tagen ist es natürlich nicht im Ansatz möglich all diese Themen zu lösen. Aber es berührte uns tief, dass Sieben Linden, ein Projekt für das Yasmina und ich beide eine große Liebe und Dankbarkeit empfinden, sich diesen Themen zuwenden wollte. Und darum waren wir uns, als wir angefragt wurden, trotz der vielen Herausforderungen, sofort einig, dass wir gerne vorbeikommen und unterstützen würden, so gut wir könnten.

Eine Feuertaufe für uns als Moderationsteam

Manche meiner erfahrenen Kollegen blickten mich nur erschrocken an, wenn ich ihnen erzählte, was Yasmina und ich vor hatten. „WAS wollt ihr machen? Also das würde ich nicht machen wollen!“ hörte ich mehrmals. Dabei zählen Yasmina und ich nicht zu den alten Hasen der Mediator*innen Szene. Wir sind beide Anfang 30 und auch wenn wir für dieses zarte Alter schon relativ viel Erfahrung mit Gemeinschaften, Gruppenprozessen und Konfliktklärung haben, kann man uns wirklich nicht zu den alten Hasen zählen. 

Funkenflug und Wanderuni – mein Weg zum Konfliktbegleiter

An dieser Stelle mache ich einen Ausflug und erzähle ein wenig über meinen persönlichen Weg zum Konfliktbegleiter und warum ich diese Arbeit so liebe und so unglaublich wichtig finde. Zuerst einmal ist da, dass mich die Sehnsucht nach einer lebensfreundlichen und enkeltauglichen Kultur schon seit meiner frühesten Kindheit begleitet. Diese Sehnsucht hat mit nach der Schule auf eine lange und große Suche geschickt, die eigentlich bis heute andauert. Zuerst führte sie mich damals zu einer Schüler- und Studentenbewegung namens „Funkenflug“.

Für eine Zeit war diese Bewegung mein Leben und mein Zuhause, in der ich einiges von dem, was meine Sehnsucht vermisst hatte, erfahren konnte. Doch nach zwei Jahren entwickelte sich zunehmend ein Konflikt zwischen den beiden Gründern (und vielen weiteren Personen) und nach drei Jahren zerbrach die Bewegung und löste sich auf. An dieser Stelle fange ich immer noch an zu weinen, aber da ich inzwischen an einem Laptop schreibe, verschmieren die Tränen immerhin nicht mehr die Tinte. 

In diesem dritten Jahr voller Konflikte habe ich tief verstanden, wie eng verwoben innerer und äußerer Wandel miteinander sind und dass wir keine großen, strukturellen Veränderungen bewirken werden, wenn wir es nicht schaffen gleichzeitig auch die innermenschliche und zwischenmenschliche Schönheit in großen Maße wachsen zu lassen. Und umgekehrt. 

Von diesem Zeitpunkt an interessierte mich die Frage, was es braucht, damit solche wertvollen Bewegungen und Projekte nicht an zwischenmenschlichen Konflikten oder strukturellen Verwirrungen scheitern. In den folgenden Jahren durchlief ich verschiedene therapeutische und pädagogische Fortbildungen und saugte so ziemlich alles auf, was mir diesbezüglich über den Weg lief. In der „Wanderuni“, einem selbstorganisierten Bildungsprojekt, dass ich acht Jahre lang pflegte, hatte ich dabei immer viele Möglichkeiten, diese neuen Erkenntnisse und Methoden in der Praxis auszuprobieren. 

Wie wir durch die Coronakrise Verständigung erlernten

Als dann die Coronakrise kam und die allgemeine Polarisierungsdynamik auch in der Wanderuni ihre ersten Auswirkungen zeige, wollte ich nicht akzeptieren, dass diese Polarisierung auch die Wanderuni spalten würde. Gemeinsam mit einigen anderen trafen wir uns für einen Forschungsmonat, aktivierten alles, was wir bis dahin gelernt hatten und versuchten auf allen Wegen Verständnis füreinander und für die allgemeine Spaltungsdynamik zu finden. Und tatsächlich: Bei unseren Bemühungen uns sachlich über Corona auszutauschen und uns so zu verstehen, stellten wir fest, dass es unter der Sachebene, mit all ihren Fakten und Argumenten noch einen weiteren riesigen Bereich gibt, der unsere Meinung noch viel stärker prägt als die Sachebene. Einen Bereich, der aber im gesellschaftlichen Diskurs fast gar nicht vorkommt.

Bedürfnisse und persönlicher Weg

Es ist der Bereich unserer Bedürfnisse, unserer persönlichen Geschichten, unserer ganz persönlichen Situation, in der wir uns befinden und unserer Werte und Weltbilder. Wir stellten fest, das wir uns in diesem Bereich nicht zeigen und mitteilen können, ohne dass dabei Gefühle hochkommen. Ja, das Gefühle überhaupt erst den Zugang zu diesem Bereich ermöglichen. Und dass wir darum (Beziehungs-)Räume kreieren müssen, die sicher genug sind, dass Menschen sich trauen sich mit ihren Gefühlen, ihren verletzlichen und zarten Seiten und auch ihren Wunden und Schattenanteilen zu zeigen, damit wir diesen unteren Bereich erkunden und uns dort austauschen können.

Wenn dies allerdings gelingt, dann stellten wir immer wieder fest, dass wir selbst bei sehr konträren Meinungen auf dieser Ebene füreinander Verständnis finden können. Dass dort z.B. verständlich wird, wieso sich mein Gegenüber vor allem vor der einen Sache fürchtet, während mich eine ganz andere Sache ängstigt. Oft lernten wir vor allem erst mal uns selber verstehen. Wir lernten wie viel unsere Verhärtungen mit persönlichen und kollektiven Wunden und Themen zu tun haben. Und dass, wenn wir uns selber in unseren eigentlic

hen Bedürfnissen und Wunden wirklich verstehen und uns gesehen fühlen, auch wieder Kapazität frei wird, um auch andere Meinungen wieder hören und verstehen zu wollen. 

Erfahrungen erproben: Versöhnungsdialoge

Durch unsere Forschung und Praxis gelang es uns wieder Verständnis und Empathie füreinander zu entwickeln. Ohne dass dies hieß, dass wir deshalb die Meinung des anderen gleich teilten oder gut hießen. Es war eher so, dass dadurch überhaupt wieder ein Sachdialog möglich wurde. Auch hier war es nicht so, dass dabei eine Seite endlich ihre Fehler einsah, während die andere endlich ihr ersehntes Recht-haben bestätigt bekam. Vielmehr war es so, dass alle Seiten eigene Fehler und Vorurteile bemerkten und alle sich ein Stück weit an die andere Seite annäherten, ohne dabei jedoch jemals bei derselben Meinung anzukommen.

Es war eher so, dass das Bewusstsein der Komplexität und Vielschichtigkeit wuchs und am meisten vergrößerte sich wohl der Bereich, in dem wir uns eingestehen mussten, wieviel wir letztendlich nicht sicher wissen. Schließlich übten und lernten wir auch jene tieferen Schichten hinter den vermeintlichen „Sachaussagen“ von anderen Menschen herauszuhören und vorsichtige Übersetzungsangebote zu machen. Aus all dem entwickelten wir ein Modell der Polarisierung, das sich viel auf die Erkenntnisse der neueren Traumatherapie stützt und bis heute bei meiner Arbeit mit Spaltungsdynamiken die theoretische Grundlage bietet. In dieser Zeit veranstalteten wir auch erste öffentliche Versöhnungsdialoge und erprobten unsere Erfahrenen mit anderen Menschen.

Unsere Bemühungen zeigten auch in der Wanderuni ihre Früchte. Obwohl wir nur wenige waren, zeigte sich bei den folgenden Treffen und Veranstaltungen der Wanderuni, dass es reichte, wenn nur einige wenige Menschen eine Brücke bilden und zwischen den verschiedene Polen übersetzen.

Innerhalb der Wanderuni lies die Polarisierungsdynamik nach, während sie in der sonstigen Gesellschaft erst so richtig startete. Als die Corona-Zeit vorüber ging, ließ auch unsere gemeinsame Polarisierungs-Forschung erstmal nach. Yasmina bot weiterhin Versöhnungsdialoge in Freiburg an und erweiterete diese später auch auf andere Themenbereiche wie „Israel-Palästina“, „Ukraine-Russland“ oder„AFD“. Und ich wurde zunehmend als Prozessbegleiter bei anderen Gruppen und Projekten eingeladen.

Spaltungen innerhalb der links-alternativ-spirituellen Szene überwinden

Vor allem interessierten mich nun jedoch immer stärker die sich überall in der Gesellschaft verstärkenden Polarisierung- und Spaltungstendenzen. Ich glaube, dass diese Konflikte einen Großteil des kreativen Potenzial binden, dass wir eigentlich dringend für all die großen gesellschaftlichen Herausforderungen brauchen würden. Da ist zum Beispiel jener große Graben zwischen der „therapeutisch-spirituellen Szene“ und den „linken Aktivisten“, welche gemeinsam irgendwie auch den vermeintlichen Widerspruch zwischen innerem und äußerem Wandel repräsentieren. Ich liebe beide Szenen und ich glaube, dass beide in den letzten Jahrzehnten unglaublich wertvolle Erkenntnisse und Kulturtechniken kultiviert haben. Es sind Puzzlestücke, die wir auf dem Weg zu einer schöneren Welt unbedingt brauchen werden und wo ich außerdem auch den Eindruck habe, dass die Puzzlestücke der einen Seite, genau jene Geschenke sind, welche der anderen Seite gut tun würden.

Aber leider sind diese Geschenke so in die jeweilige Sprache und die Kultur dieser Szene eingepackt, dass ich verstehen kann, dass die andere Seite nur sehr selten etwas damit anfangen kann und ihnen meistens sogar ablehnend gegenüber steht. So wird zum Beispiel die Weise wie in aktivistischen Kreisen auf ungerechte, gewaltvolle und ausgrenzende Strukturen aufmerksam gemacht wird, in spirituell-therapeutischen Kreisen oft als hart und selber gewaltvoll empfunden. Andersherum kommt die feine Wahrnehmung für innere Prozesse oder eigenen Grenzen und das Auseinanderhalten von Projektionen und echten Wahrnehmungen, welche in spirituell-therapeutischen Kreisen geschult wird, in aktivistischen Kreisen oft wie ein „nur um sich selber Kreiseln“ an. Ich frage mich, welches Potenzial frei werden würde, wenn beide Szenen zusammenfinden und ihre jeweiligen Stärken und Fähigkeiten zusammenlegen würden. Ähnlich geht es mir mit vielen anderen Polarisierungen, welche die Gesellschaft derzeit zunehmend spalten.

Der Weg geht weiter

Dieser Frage und diesem Drängen in mir folgend, begann ich im letzten Jahr zum Beispiel als Therapeut und Mediator mit Menschen der letzten Generation zu arbeiten und umgekehrt auf eher „hippi-spirituellen“ Veranstaltungen links-aktivistische Themen einzubringen. Meine Erfahrung dabei ist, dass es wirklich nicht leicht ist und dass es sich doch immer wieder lohnt, wenn eines der Geschenke der einen Seite, mal so richtig auf der anderen Seite landen kann. Ja, ich habe sogar den Eindruck, dass diese Geschenke und Puzzlestücke, sogar erst auf dieser anderen Seite, befreit von ihrer Verpackung und eingebettet in die Geschenke und Kultur der anderen Seite, so richtig zu ihrer Entfaltung kommen. Und ich bemerke, dass ich nicht der einzige auf diesem Weg bin, sondern dass es eine Menge Menschen gibt, die sich auf gemacht haben, um zwischen diesen Welten zu wandern, Brücken zu bauen und Verbindungen zu schaffen.

Eine Kultur des Friedens wachsen lassen

Auf meiner ganzen Suche hatte ich nie vor Therapeut oder Mediator zu werden und habe es eigentlich noch immer nicht. Den viel tiefer interessiert mich die Frage, wie ich all das Wissen über Konflikttransformation und die Heilung seelischer Wunden, so aufbereiten kann, dass es allgemeines Wissen und Kulturgut werden könnte. Wovon ich bis heute träume ist kein Expertentum für Konfliktklärung, sondern eine Kultur der zwischenmenschlichen Schönheit und des tiefen Friedens mit einem weit verbreiteten Wissen und einer gelebten, vielfältigen kulturellen Praxis zur Konflikt- und Traumatransformation. 

Ich glaube, dass viele Menschen tatsächlich gar nicht wissen und nie eine Erfahrung damit gemacht haben, was für erstaunliche, schöne, magische und berührende Möglichkeiten der konsequent friedliche Weg der Verständigung im Konfliktfall bietet. Welche Wunder durch Konflikttransformation möglich sind. Das ist ja beispielsweiseauch eines der Hauptprobleme der klassischen Mediation im Rechtssystem, dass in ca. 90% aller Fälle die Beteiligten bei einer Mediation glücklicher mit dem Ergebnis sind, als bei einem klassischen Gerichtsprozess, dass aber gleichzeitig bei ca. 90% der Fällen die Beteiligten nicht einmal auf die Idee kommen, dass sie auch den Weg der Mediation gehen könnten.

Dabei wird bei einer herkömmlichen Mediation das tiefe Potential von Konflikten meistens gar nicht angesteuert. Natürlich, Konflikte sind furchtbar unangenehm, aber sie sind in meinem Verständnis immer auch eine offene Pforte, die uns auf sehr direkte Weise zu Selbsterkenntnis, persönlichen Wachstum und der Heilung unserer seelischen Wunden führen kann. Auch wenn ich aus eigener schmerzhafter Erfahrungen zugebe, dass es wirklich, wirklich kein einfacher oder leichter Weg ist. Es geht langsam, es ist anstrengend und unsere kollektiven Fähigkeiten in den westlichen Gesellschaften sind diesbezüglich ziemlich dürftig ausgeprägt. 

Friedensausbildungen statt Wehrpflicht

100 Milliarden Zusatzvermögen für das deutsche Militär und die Wiederaufnahme der allgemeinen Wehrpflicht finde ich da eigentlich einen angemessenen, ersten Schritt. Vorausgesetzt, dass der Wehrdienst eine Grundausbildung in Konflikttransformation, Friedensarbeit und Verständigung wird und das deutsche Militär aus den weltweit best-ausgebildesten Mediator:innen, Konfliktbegleite:innen, Friedensarbeiter:innen und Diplomat:innen bestünde, die sich überall auf der Welt für eine friedliche Lösung der Konflikte einsetzen.

Obwohl eine solche Vision  unrealistisch und naiv ist, kann ich irgendwie nicht lassen, immer wieder daran zu denken und auch nicht verhindern, dass dabei ein seltsam glückliches Lächeln über mein Gesicht zieht. Und irgendwie lässt mich auch das unrealistische Gefühl nicht los, dass ein solches „Militär“ eine verantwortungsvollere Antwort auf unsere deutsche Geschichte wäre und ich mich auf paradoxe Weise sogar sicherer fühlen würde, als wenn, wie jetzt, in neue Panzer investiert wird. Und schließlich kann ich es auch nicht lassen, trotz aller gegenteiligen Tendenzen derzeit, immerfort zu hoffen, dass bald eine neue, starke Friedensbewegung erwächst, die nicht nur Frieden fordert, sondern die Praxis von tiefer und echter Verständigung, täglich und überall praktiziert und übt. 

Das sind die Visionen, welche den eigentlichen Boden meiner Arbeit bilden. Ich möchte nicht einfach nur einen Konflikte lösen, sondern dazu beitragen das eine Kultur des Friedens und der Verständigung wächst. Egal ob ich ein Paar begleite oder als Mediator nach Sieben Linden fahre. Und damit sind wir, nach diesem Ausflug in meine persönliche Geschichte und Motivation, wieder zurück bei der eigentlichen Hauptstory angekommen.

Corona, Sieben Linden und wir

Yasmina und ich hatten also beide schon Gruppen zu Corona oder anderen polarisierenden Themen und Konflikten begleitet, aber mit einer solch großen Gruppe über so viele Tage hinweg zu arbeiten, dass war auch für uns eine völlig neue Aufgabe. Wahrscheinlich war es gerade dieser jungen Naivität zu verdanken, dass wir freudvoll und optimistisch auf diese Aufgabe schauten und sich dieser Optimismus auch von den Kommentaren unser älteren Kolleg*innen nicht verscheuchen ließ. Ganz so naiv, wie das bis hier klingt, waren wir dann aber doch nicht, denn schließlich hatten wir geplant, dass auch Roman Huber mit dabei sein würde. Und Roman ist wirklich einer der erfahrenen alten Hasen: Gründungsmitglied der Gemeinschaft Schloss Tempelhof, Vorstand von „Mehr Demokratie e.V.“ und Autor des Buches „Die zerrissene Gesellschaft“.

Roman würde als Unterstützer und Mentor mit dabei sein und uns in allen schwierigen Situationen aus der Patsche helfen. Perfekt. Einziges Problem war, das er zwei Tage vor Beginn der Intensivzeit absagen musste, weil da gerade die Ampelkoalition zerbrochen war und er voll in seiner Tätigkeit als Vorstand von „Mehr Demokratie e.V.“ gebraucht wurde. Nun. Der Optimismus hielt sich hartnäckig und so standen wir also Mitte November zu zweit vor der Gemeinschaft und sprachen unsere Anfangsworte.

Erkenntnisse aus der Corona-Aufarbeitung im Ökodorf 

Wahrscheinlich erwartest du, hochgeschätzte:r Leser:in, dass ich nun endlich genauestens beschreiben werde, was während dieser Intensivzeit geschah und die methodischen und inhaltlichen  Hintergründe erläutere, die es möglich machen, ein solch komplexes Konflikthema zu bearbeiten.

Leider muss ich dich enttäuschen. Die konkreten Prozesse der Intensivzeit kann ich schon aus Verschwiegenheitsgründen nicht erzählen. Und wenn ich versuchen würde den Ansatz, die Modelle, und Methoden, die wir bei unserer Entpolarisierungsarbeit nutzen und die verschiedenen komplexen Dynamiken, Muster und Prinzipien, die wir beobachten auch nur einigermaßen angemessen zu beschreiben, dann müsste ich mindestens ein Buch schreiben. Ansonsten würde ich vieles auf unzulängliche Weise verkürzen und würde Gefahr laufen sehr viele Missverständnisse, Anfeindungen und letztendlich Polarisierung zu provozieren. Und für ein solches Buch habe ich derzeit keine Zeit. Vor allem jedoch fehlt mir die nötige Erfahrung, mit vielen weiteren Entpolarisierungsprozessen, um es wirklich präzise und umfassend formulieren zu können.

Um die aufgebaute Spannung und Erwartung jedoch nicht völlig ins Leere laufen zu lassen, kann und werde ich stattdessen zwei Dinge tun:

Einmal kann ich in Bezug auf die Intensivzeit meine wichtigsten Erkenntnissen benennen. Diese sind ganz schlich: Es lohnt sich. Und: Es geht nur langsam. In der Mitte der Intensivzeit, als mir bewusst wurde, wie wenige der Brocken wir bisher aufgeräumt hatten und wie unendlich groß der Berg, der gesellschaftlich ansteht, dazu im Vergleich ist, hätte ich am liebsten einen ganzen Tag nur geweint. Und gleichzeitig wusste ich bei jedem noch so kleinem Brocken, der sich löste und bei jedem Moment der Versöhnung oder des Verständnisses, dass sich diese Arbeit lohnt und dass ich hier weiter wirken und lernen will. 

Ein Angebot

Zweitens kann ich, in Bezug auf unseren Ansatz und die verschiedenen Modelle und Methoden, die wir in unserer Entpolarisierungsarbeit nutzen, anbieten: Lade uns doch ein. In dein Projekt oder deine Gemeinschaft. Dann kommen wir vorbei und erzählen und arbeiten ganz direkt damit und du kannst die Theorie wirklich in Verbindung mit der Praxis kennen lernen. Wir zumindest haben Lust unsere Arbeit an verschiedene Orte zu bringen. Und nur wenn wir und auch wir alle Entpolarisierungsarbeit wirklich tun und anwenden, können wir sie lernen und weiter entwickeln. Und das ist, glaube ich, auch gesellschaftlich so richtig wichtig.

Damit du zumindest ein bisschen weißt worauf du dich einlässt, benenne ich hier mal die drei wichtigsten Zutaten unserer Arbeit: Liebevolle radikale Ehrlichkeit, ganz viel Langsamkeit und ein paar Tropfen Magie. Wir bringen diese Zutaten mit und können damit dann gemeinsam Forschen und Erfahrungen sammeln wie Verständigung und Versöhnung über große und kleine Gräben hinweg geht. Und vielleicht schreibe ich dann in eins, zwei Jahren auch ein Buch über die vielen Theorien, Modelle und Methoden, die dabei auch noch hilfreich sind.

Emil Allmenröder

Hier findest du die Webseite, wo ich und einige andere, die gemeinsam daran forschen wie Verständigung und Entpolarisierung möglich wird, unsere Arbeit anbieten: Gestaltenstattgespalten.de

Yasmina Stecks Webseite: Yasminasteck.org

Wenn du mehr zu dem Prozess in Sieben Linden hören willst, kannst du dir auch Corona-Aufarbeitung und Entpolarisierungs-Arbeit im Ökodorf , dazu anhören.

Und ein Video von Yasmina zum Podcast gibt es hier: https://www.instagram.com/p/DDKERYUM9JB/

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