Drei Personen sitzen auf dem Podium und sprechen.
Von Links nach rechts: Jnana Wolfsteller, Dr. Shadi Abuhamad, Simone Britsch

Doku und Austausch mit einem Arzt aus Gaza im Kino in Salzwedel

„Mein Vater hat diesen Krieg nicht überlebt und meine Mutter hat seit sechs Tagen kein Brot gesehen.“


„No Other Land“ ist eine preisgekrönte Filmproduktion aus dem Jahr 2024 und zeigt die aktuelle israelische Siedlungspolitik im Westjordanland. Simone Britsch aus Sieben Linden hat das Kino „Filmpalast“ im benachbarten Salzwedel motiviert, den Film am 18. Mai in der Reihe Filmkunsttage ins Programm zu nehmen. Als Moderation bot sie im Anschluss ein Filmgespräch mit einem deutschen Arzt aus Gaza und einer Französin mit jüdischem Hintergrund an.

No Other Land – die Zusammenfassung der Dokumentation

Im Mittelpunkt der vor dem 7.10.23 gefilmten Doku steht der junge palästinensische Aktivist Basel Adra aus Masafer Yatta im Westjordanland, der sich gegen die Vertreibung von Palästinensern durch die israelische Armee wehrt. Die israelische Besatzungsmacht reißt Häuser ab und vertreibt unter Mitwirkung radikaler israelischer Siedler ihre Bewohner. Viele Menschen, die gewaltfrei Widerstand leisten und auf ihrem Land bleiben wollen, werden verletzt oder inhaftiert. Yuval Abraham, ein israelischer Journalisten unterstützt die Filmarbeiten aus Solidarität mit den Dorfbewohner:innen und wird dabei selbst zum Protagonisten. Mitten in der Fertigstellung der Dokumentation greift die Hamas aus Gaza heraus Israels an, die Gewalt eskaliert auch in der Westbank.

„Ich bin Deutscher mit palästinensischem Hintergrund, geboren und aufgewachsen in Gaza“

Nach dem Film gehen die Lichter im Kino an und man blickt in über 40 betroffene Gesichter. Simone Britsch eröffnete als Moderation das Filmgespräch mit zwei Podiumsgästen, die jeweils eine besondere Perspektive auf das Westjordanland und auch auf den aktuellen Krieg in Gaza vertreten.

Dr. Shadi Abuhamd stellt sich vor, er ist sichtlich emotional erschüttert durch die vorangehenden Bilder aus seiner Heimat. „Ich arbeite als Chefarzt in einem deutschen Krankenhaus, bin Deutscher mit palästinensischem Hintergrund, geboren und aufgewachsen in Gaza. Ich habe die Repression, Besatzung und das israelische Apartheid-Regime hautnah erlebt. 1996 bin ich nach Deutschland gekommen, habe Medizin studiert und bin seitdem als Arzt tätig. Meine Familie war nicht immer in Gaza, sie wohnten bis 1948, also bis zur ersten Vertreibungswelle, der Nakba, in genau dem Ort in dem der jüdische Journalist Yuval Abraham in dem Film „No Other Land“ heute lebt – Be’er Scheva in Israel. Das Schicksal meiner Familie gleicht dem, was im Film dargestellt wurde. Nach mehrmaliger Vertreibung brachte mich meine Mutter 1978 im Flüchtlingslager in Gaza zur Welt.“

Viele jüdische Menschen weltweit sagen: Nicht in meinem Namen

Jñana Wolfsteller aus Sieben Linden ist Tochter einer jüdischen Mutter mit algerischen Wurzeln und eines katholischen Vaters. Als in Deutschland verheiratete Französin fühlt sie sich als Teil einer interkulturellen Familie: „Die Zukunft von Israel besteht im Frieden. Es gibt keine Stabilität für Israelis, wenn nicht auch für die Palästinenser Frieden erreicht wird. Das zu fordern ist nicht antisemitisch, im Gegenteil, es ist eine Unterstützung Israels – natürlich nicht von der aktuellen Regierung unter Netanjahu. Israel ist ein Patchwork von politischen Meinungen und viele Juden weltweit sagen zur Siedlungspolitik im Westjordanland und zum Krieg in Gaza: Nicht in meinem Namen! Und natürlich fordern wir auch die Freilassung der Geiseln.“

Shadi Abuhamad ergänzt: „Es gibt sehr viele mutige Menschen in Israel, sehr viele Kräfte, die für Frieden sind. Zum Beispiel israelische Wehrdienstverweigerer oder die Organisation „Breaking the Silence“. Warum tut sich ein Land wie Deutschland nicht mit diesen Kräften zusammen? Frau Baerbock hat letztes Jahr jegliche deutsche Finanzhilfe für diese Organisationen gestrichen. Immerhin spricht die deutsche Politik mittlerweile von Kriegsverbrechen – aber man zieht keine Konsequenzen. Die deutschen Waffenlieferungen einzustellen wäre eine angemessene Reaktion auf die Kriegsverbrechen in Gaza und die völkerrechtlich nicht akzeptable Besatzung im Westjordanland.“

Jñana Wolfsteller teilt ihre Einschätzung zur politischen Lage: „Der Enthusiasmus und das Vertrauen für Israel, für das Ideal, was es verkörpert hat, bricht gerade zusammen, obwohl soviel Hoffnung für die Juden weltweit darin lag. In Israel gibt es jetzt wieder jeden Samstag Demonstrationen. Gestern waren jüdische Menschen auf der Straße mit Fotos von im aktuellen Krieg verstorbenen palästinensischen Kindern.“

Die wenigen Journalisten, die es in Gaza noch gibt, haben bereits ihr Testament gemacht

Ein Zuschauer sagt: „Die Szenen in der Dokumentation No Other Land sind beeindruckend. Es sind Bilder, die einem in den deutschen Medien kaum zur Verfügung gestellt werden. Ich bewundere den Mut dieser Journalisten“. Simone Britsch ergänzt: „Ja, es ist scheinbar sehr gefährlich. Nach der Oskarverleihung an „No Other Land“ im März 2025 haben israelischen Siedler den Preisträger selbst, den palästinensischen Filmemacher Hamdan Ballal, im Westjordanland attackiert und verletzt. Anschließend wurde er vom israelischen Militär vorübergehend festgenommen.“

Shadi Abuhamad: „In Gaza ist es noch schlimmer als im Westjordanland. Über 200 Journalisten sind in Gaza getötet worden. Die wenigen Journalisten, die es in Gaza noch gibt, haben bereits ihr Testament gemacht.“ Er bestätigt, dass die Szenen im Film sehr authentisch wirken und dem entsprechen, was in vielen palästinensischen Gebieten seit Jahren vor sich geht.

Alltag im Freiluftgefängnis Gaza vor dem 7. Oktober 2023

Shadi Abuhamad erklärt, dass die Besatzung des im Film gezeigten Westjordanlandes von der UN in mehreren Resolutionen verurteilt wurde.

Bis 2005 war auch Gaza von israelischen Siedlungen durchsetzt. „Mein tägliches Leben in Gaza war so: Wir durften einmal die Woche duschen und die Siedler hatten Swimmingpools.“ 2005 wurden dann die jüdischen Siedlungen aufgelöst und der Gaza-Streifen militärisch abgeriegelt und in ein Freiluft-Gefängnis verwandelt, in dem die Regeln der Besatzer galten. Man hat uns zum Beispiel gesetzlich verboten Wasserbrunnen anzulegen, und wir dürfen bis heute kein Regenwasser sammeln. Viele von uns sind seit langem schon auf heimlich betriebene Brunnen angewiesen.“

Dieser Krieg verläuft sehr gezielt

Wie geht es der Familie von Shadi Abuhamad in Gaza im Moment? „Mein Vater hat diesen Genozid nicht überlebt und meine Mutter hat seit sechs Tagen kein Brot gesehen. Mein Bruder ist Arzt in Gaza und arbeitet unter schlimmsten Bedingungen. Obwohl er zu Beginn des Krieges die Chance gehabt hätte, auszureisen, hat er es nicht getan. Ich mache mir nun ständig Sorgen um ihn und habe ich gestern gesprochen. Er berichtet vom Drohnen-Terror und von Quadkoptern, das sind Drohnen mit Schießvorrichtungen, die ständig in den Straßen patroullieren.“

Und weiter: „Ich habe schon sehr viele Freunde verloren, letzte Woche wurden ein Freund, dessen Frau und 2 Kinder gezielt von einer Drohne in ihrer Unterkunft getötet, der Vater hatte sich aktiv an der Verteilung von Nahrung und Wasser beteiligt. Dieser Krieg verläuft sehr gezielt. Auch Schulen, Universitäten und Krankenhäuser wurden gezielt zerstört. Das war schon zu meiner Kindheit die Strategie der israelischen Besatzer – immer zuerst die Bildungseinrichtungen vernichten. Doch uns Palästinensern ist Bildung sehr wichtig, wir haben manchmal auch im Flüchtlingslager selbstorganisiert in Zelten gelernt.“

Umsiedlung in Nachbarländer?

Frage aus dem Publikum: „Man will die Leute umsiedeln, liest man in den Medien – Wo sollen die Menschen aus Gaza denn hin?“ Shadi Abuhamad: „Das palästinensische Volk möchten nicht in Jordanien oder Ägypten leben, denn Palästina ist ihre Heimat. Sie beschränken sich auf die kleinen Gebiete, die ihnen von der UN zugestanden werden, aber dort wollen sie in Frieden und ohne Besatzung leben. So wollte mein Vater auch nicht zu Beginn des Krieges zu mir nach Deutschland kommen. Er hat gewählt lieber in Gaza bleiben und das hat er nicht überlebt. Eine Umsiedlung der Menschen wäre eine ethnische Säuberung und das widerspricht dem Völkerrecht.“

Dank an Kino als Ort des politischen Diskurses

Simone Britsch dankt abschließend nach einer einstündigen Diskussion Barbara Bode und dem Kino Filmpalast, dass sie den Film ins Programm genommen haben und ohne kommerzielle Werbung gezeigt haben. Sechs andere Kinos zwischen Salzwedel, Gifhorn und Wolfsburg hatten abgesagt, so die Organisatorin. Es sei begrüßenswert, wenn Kino nicht nur ein Ort der Unterhaltung, sondern auch des politischen Diskurses sein kann.

Simone Britsch

Hinweis: Dieser Beitrag sowie die Teilnahme an der Veranstaltung repräsentiert nicht unbedingt die Meinung aller Bewohner:innen des Ökodorfes Sieben Lindens und des Vereins Freundeskreis Ökodorf e.V.

Mehr zum Hintergrund des aktuellen Nahost-Konfliktes hier in der Ökodorf-Podcast-Folge mit Anja Reumschüssel/ Über den Dächern Jerusalems.

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