
Wahre Demokratie braucht einen neuen Umgang mit Macht.
Wir leben in einer Welt, in der „Macht“ ein Tabuwort ist – denn wir erleben an so vielen Punkten, wie Menschen ihre Macht missbrauchen. Ein Gesundheitsminister profitiert von dubiosen Maskengeschäften, ein amerikanischer Präsident will die ganze Welt nach seiner Pfeife tanzen lassen, oder Vorgesetzte schikanieren ihre Mitarbeiter:innen. Ständig erleben wir einen sehr fragwürdigen Umgang mit Macht.
Aber wir brauchen Macht, um die Verhältnisse zum Guten zu verändern. Wie können wir einen neuen Umgang damit finden?
In unserer politischen Szene gibt es häufig eine starke Ablehnung von allem, was mit „Macht“ zu tun hat. Aber damit schütten wir das Kind mit dem Bade aus. Denn dadurch, dass Menschen unterschiedlich sind, werden sich immer informelle Macht-Strukturen bilden, die häufig toxischer sind als formelle Machtstrukturen. Lass diese Deutung auf dich wirken: „Macht bedeutet nichts anderes als die Fähigkeit, Menschen und Situationen zu beeinflussen“. Ist das nicht genau das, was wir mit demokratischem Engagement wollen?
Ein bewusster Umgang mit dem Thema Macht
In einer lebendigen Demokratie wird Macht nicht abgeschafft, aber es wird dafür gesorgt, dass alle Menschen mitgestalten können – und damit Macht haben. Ganz wichtig ist dabei allerdings, nicht in die Fallen zu tappen, die mit Macht-Positionen einhergehen.
Warum gehört zur Allgemeinbildung nicht dazu, einen bewussten Umgang mit diesem wichtigen Thema zu lernen?
Die Forschung rund um das Thema „Macht“ hat viele spannende Ergebnisse geliefert. Menschen verändern sich in mächtigen Positionen und das Verhalten von Menschen ändert sich, wenn sie Menschen gegenüberstehen, die sie als mächtig wahrnehmen.
Wichtig ist dabei: Alle diese Erkenntnisse haben wenig damit zu tun, wieviel Gestaltungskraft eine Person wirklich hat, sondern viel mehr damit, wie sie sich selber wahrnimmt und wie sie von anderen wahrgenommen wird. Wenn ich also in der Folge von „Mächtigen“ schreibe, wäre der korrekte Ausdruck jedes Mal: „Menschen, die sich mächtig fühlen“.
Mächtige Rollen verändern die Menschen
Ein paar Beispiele aus der aktuellen psychologischen Forschung von Dacher Keltner und Anderen.
- „Mächtige“ sind der unbewussten Überzeugung, dass ihnen mehr zusteht als Anderen. (Self-Serving Bias)
- „Mächtige“ verlieren ein Stück ihrer Empathie und scheren sich weniger um soziale Konventionen.
- „Mächtige“ schauen mehr auf größere Zusammenhänge als auf Einzelheiten.
- „Mächtige“ sind mehr als Andere der Überzeugung, dass sie die Welt mit ihren Handlungen beeinflussen könnten – selbst in Situationen, in denen das eindeutig nicht der Fall ist, z.B. beim Würfeln.
- „Mächtige“ gehen häufig davon aus, dass Erfolge ihr Verdienst sind und Misserfolge nicht ihre Verantwortung, sondern externen Umständen geschuldet sind.
Und auf der anderen Seite:
Menschen in mächtigen Rollen werden verzerrt wahrgenommen.
Nicht nur die Menschen in mächtigen Rollen verändern sich, auch die Art, wie andere auf Menschen schauen, die sie als mächtig erleben, wird von der wahrgenommenen Macht geprägt. Menschen, die sich selbst als weniger mächtig erleben als ihr Gegenüber, nehmen dieses verzerrt wahr. Dies habe ich insbesondere von Julie Diamond gelernt und tausendfach in meiner eigenen Erfahrung bestätigt bekommen.
- Sie hören Forderungen, wenn ihr Gegenüber eine Bitte ausspricht.
- Sie hören aus interessierten Fragen häufig starke Kritik heraus.
- Sie überhöhen den Einfluss des Gegenübers und projizieren daher – je nachdem, wie das Verhältnis ist – entweder viel Schlechtes oder viel Gutes in das Gegenüber.
- Sie geben den Mächtigeren selten konkretes, konstruktives Feedback.
Der letzte Punkt, der in hierarchiekritischen Kontexten allerdings weniger relevant ist, hat wiederum Auswirkungen auf das Selbstbild der Mächtigen. Dadurch, dass sie kein Feedback bekommen und tendenziell eher positive Rückmeldungen bekommen als negative, verstärkt sich ihr verzerrtes Selbstbild.
Wir sehen das im Augenblick extrem an den beiden Köpfen der größten Streitmächte der Welt – an Putin und Trump. Sie haben in ihrem Beraterkreis (da es überwiegend Männer sind, und wohl keine Transpersonen verzichte ich hier bewusst auf das Gendern) nur noch Menschen, die sie in ihrem Größenwahn bestärken, und bekommen keine Rückmeldungen mehr, die ihr Handeln infrage stellt.
Rangbewusstsein ist ein Schlüssel!
Ein unbewusster Umgang mit Macht kann diesen Planeten zerstören – das beobachten wir gerade in der Politik sehr drastisch. Ich bin überzeugt, dass ein bewusster Umgang mit Macht ein wesentlicher Beitrag zur Rettung der Menschheit ist. Und ein bewusster Umgang mit Macht bedeutet nicht, Gestaltungskraft zu verteufeln. Sondern es bedeutet, ein Bewusstsein zu entwickeln, was Macht-Dynamiken mit den Menschen und mit menschlichen Beziehungen machen. In der Prozessorientierten Psychologie, die mich zu diesem Thema am stärksten inspiriert hat, wird das „Rang-Bewusstsein“ genannt. Rang sind in dieser Schule alle Faktoren, die unsere Fähigkeit, Menschen und Situationen zu beeinflussen, bestimmen. Was bedeutet es, wenn wir uns unseres Ranges und der Fallen, die in hohem Rang stecken, bewusst werden? Ich glaube, wir könnten kraftvoll die Welt verändern!
Inspirationen aus Sieben Linden
Sieben Linden war für mich ein wichtiges Lernfeld, um den Umgang mit Macht zu reflektieren, denn natürlich wirken die Dynamiken im Großen wie im Kleinen. Ich bin als Mitbegründerin, langjährige Geschäftsführerin und Vorstandsmitglied in Sieben Linden in einer „mächtigen“ Position. Wie kann ich konstruktiv damit umgehen? Das ist eine persönliche Forschungsfrage, die mich seit Jahrzehnten begleitet. Meine Erkenntnisse zum Thema „Macht“ habe ich in einem Buch veröffentlicht: „Macht voll verändern. Rang und Privilegien in ‚hierarchiefreien‘ Projekten.“ Und ich gebe vom 9.-12. Oktober dazu ein Seminar in Sieben Linden: „Wir sind doch alle gleich!? Inspirationen zum Thema Rang und Privilegien aus der Deep Democracy und der Soziokratie.“
Ich freue mich auf euer Interesse!
Eva Stützel