Der Sternenhimmel als Spiegel unserer Selbst

Hier über dem Artikel siehst du ein Bild der Milchstraße, wie es im August in Sieben Linden aufgenommen wurde. Es gibt Nächte, in denen ich nachts auf dem Dorfplatz stehe und genau in diesen mit Sternen übersäten Himmel blicke – in denen mich neben einer tiefen Ehrfurcht auch eine leise Trauer überkommt. Eine Trauer darüber, dass das, was ich hier sehe, für Millionen von Menschen bereits verloren ist – ohne dass uns die volle Tragweite dieses Verlustes bewusst geworden wäre. Dass das, was ich sehe, für Millionen von Menschen bereits zur Seltenheit geworden ist. Für Jahrhundertausende war der Sternenhimmel für die Menschheit Schauplatz großer Mythen, war Ort von Magie, dem Erleben von tiefer Verbundenheit mit dem Sein, mit der eigenen Existenz und Endlichkeit – doch die Gewissheit des nächtlichen Sternenhimmels ist heute zum Privileg geworden.

Hier in Sieben Linden haben wir das Privileg der Dunkelheit bewahrt. Unsere Wege sind sparsam beleuchtet, unsere Häuser strahlen kein überflüssiges Licht in die Nacht. Wenn ich den Kopf hebe, sehe ich die Milchstraße in ihrer überwältigenden Üppigkeit wie ein silbernes Band über den Himmel gespannt – so, wie sie unsere Vorfahren seit Jahrtausenden sahen. Doch dieses Geschenk ist fragiler geworden, kostbarer und seltener, als wir es uns je hätten vorstellen können. Nur 2% des Gebietes der Bundesrepublik sind ähnlich dunkel und die Altmark und das Wendland zusammen sind das größte zusammenhängend dunkle Gebiet in Deutschland.

„Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Immanuel Kant

Vom Schönen zum Erhabenen

Kant unterschied zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. Das Schöne gefällt uns unmittelbar, ohne dass wir einen Nutzen darin sehen müssen. Das Erhabene jedoch überwältigt, es erschüttert uns – es zeigt uns unsere eigene Kleinheit und rückt uns an unseren eigentlichen Platz. Gleichzeitig zeigt es uns unsere Fähigkeit, über diese Kleinheit hinauszudenken. Der Sternenhimmel ist das Erhabene in seiner reinsten Form: Er demütigt uns und erhebt uns zugleich.

Doch was geschieht mit einer Gesellschaft, die das Erhabene verliert? Die nur noch das Schöne kennt, das Kontrollierbare, das Messbare? Die alles ins gleißende Licht der Vernunft zerrt? Wir schauen uns doch auch selbst mit diesem Brennglas an. Wir werden kleiner, enger in unserem Denken. Wir verlieren den Maßstab für das Unendliche und damit auch für unsere eigene Bedeutung und Verantwortung. Wenn wir nicht mehr sehen können, wie winzig wir im Kosmos sind, vergessen wir auch, wie kostbar und einzigartig unser Planet ist. Und welche riesige Verantwortung wir alle tragen. 

Ich erinnere mich oft an schwüle sommerliche Nächte in größeren Städten und sehe die orangefarbene Glocke, die sich über sie wölbt – eine Kuppel aus verschwendetem Licht, die die Sterne verschluckt. Die Menschen dort leben unter einem künstlichen Himmel, ohne zu wissen, was sie verloren haben. Es ist eine moderne Tragödie: Wir haben das Licht erfunden, um die Dunkelheit zu besiegen, und dabei das Licht der Sterne ausgelöscht. Diese Lichtverschmutzung aber ist mehr als nur ein ökologisches Problem. Sie ist ein Symbol für unsere Entfremdung von der Natur, für unseren Verlust an Demut und Staunen. Jede überflüssige Straßenlaterne, jede unnötig helle Reklamewand ist ein kleiner Akt der Aggression gegen das Mysterium der Nacht. Wir haben vergessen, dass Dunkelheit nicht der Feind ist, sondern der Rahmen, in dem das Licht erst seine Strahlkraft entfalten kann.

Rebellion und Demut

In Sieben Linden versuchen wir, die Nacht wiederzufinden. Wir leben bewusster mit der Dunkelheit, schätzen sie als Zeit der Ruhe und Reflexion. Unsere Kinder wachsen mit den Sternbildern auf und sie verstehen intuitiv, was viele Erwachsene verlernt haben: dass wir Teil von etwas Größerem sind, etwas Wunderbarem und Geheimnisvollem.

Wenn ich abends nach draußen gehe und wie zum ersten Mal die Milchstraße sehe, spüre ich, dass wir etwas Wichtiges bewahren müssen – nicht nur für uns, sondern für die Zukunft. Denn der Sternenhimmel ist auch ein Versprechen: dass es Schönheit gibt, die nicht käuflich ist, Wahrheit, die nicht relativ und verhandelbar ist, und Frieden, den wir tief in unserer Brust tragen. Vor dem Sternenhimmel werden unsere kleinlichen Streitereien unbedeutend und unserer großen Konflikte lösbar.

Der Schutz des Sternenhimmels ist ein Akt der Rebellion und einer von Bescheidenheit. Er bedeutet anzuerkennen, dass nicht alles allein für uns da ist, dass es Werte gibt jenseits des Nützlichen und Praktischen. Er bedeutet, Raum zu lassen für das Mysterium, für die Fragen, auf die wir vielleicht niemals werden eine Antwort finden. Für unsere Fantasie, die bis zu den Grenzen des Kosmos reicht.

In einer Zeit, die alles erklären und kontrollieren will, bietet uns der Sternenhimmel einen letzten Zufluchtsort für das Unbegreifliche. Er erinnert uns daran, dass wir nicht die Herren des Universums sind, sondern nur vergängliche, staunenden Gäste. Diese Demut brauchen wir dringender denn je – nicht nur für den Schutz der Nacht, sondern für den Schutz von allem, was uns menschlich macht. Wenn wir den Sternenhimmel retten, retten wir nicht nur ein Naturphänomen. Wir retten unsere Fähigkeit zu träumen, zu staunen und uns als Teil eines größeren Ganzen zu verstehen.

Raunächte: Zeit des Übergangs und der Verbindung

Seit Jahrtausenden haben Menschen die Raunächte genutzt, um sich dieser größeren Ordnung zu öffnen – jener Zeit zwischen den Jahren, wenn der Schleier zwischen den Welten dünner wird. Unter unserem dunklen Himmel wollen wir in der Stille, in der Meditation, in Ritualen, den Blick nicht nur nach oben, sondern auch nach innen richten. 

Wenn auch du die Magie dieser besonderen Zeit und dieses besonderen Ortes erleben möchtest, kannst du uns zum Jahreswechsel 25/26 zu unserem Neujahrsretreat hier im Ökodorf besuchen. Wir werden die Zeit vom 01. – 06.01. unter anderem mit Meditation, MBSR, Yoga und Kakao-Zeremonie gestalten und so bewusst diese Zeit der Raunächte als Phase des Übergangs und der Transformation gemeinsam erleben:

Wir werden die Städte in absehbarer Zeit nicht wieder in dunkle Nacht tauchen, aber wir können Orte schaffen, die das Erbe bewahren und die uns wieder näher zum All und damit zu uns selbst bringen.