Karina und Martin

Frohe Weihnachten! Ein Sommer-Tag mit meinem ganz speziellen Onkel Martin.

Ein Text von Karina Stützel über ihren Onkel Martin, der eine geistige Behinderung und viele Begabungen hat. Karina ist jetzt 26 Jahre alt und hat seit ihrem 10. Lebensjahr immer wieder mit Martin und Eva zusammen in einer ungewöhnlichen und doch alltäglichen Familien-WG in Sieben Linden gelebt.

Ich liege an einem Freitagmorgen mitten im Sommer noch im Bett, bin Halbschlaf, da höre ich eine wohlbekannte männliche Stimme. Manchmal ist es nur Gebrummel, dann wieder aufgebrachte Worte. Raus aus dem Bett, ich rufe „Guten Morgen“ und als Antwort kommt ein „Fröhliche Weihnachten!“. „Frohes Neues Jahr!“ antworte ich, um mich Martins Datumsansage etwas anzupassen …

Der erste Gang führt ins Bad. Das frische Handtuch, was ich gestern erstmals genutzt hatte, ist schon wieder weg – „Muss gewaschen werden!“ ist Martins Totschlagargument. Ich rege mich schon nicht mehr drüber auf und hole es mir aus der Dreckwäsche wieder heraus. Vielleicht schaffe ich es ja – wenn ich mein Handtuch so halb hinter den Schrank hänge – dass ich es morgen am Haken wiederfinde. Mal sehen.

Als ich die Küche betrete, ist nicht nur das Geschirr schon abgewaschen, auch der Boden wird gerade frisch gewischt. Alles ist nass. „Martin, ich würde gerne jetzt hier frühstücken. Kannst du vielleicht später wischen?“ „Gibt gleich Mittagessen!“ ist da die Antwort (um 8 Uhr morgens). Aber, umsichtigerweise, verlagert Martin sein Wischen in den Flur. „Martin, du musst eh erst fegen, bevor du wischen kannst!“, ruft meine Mutter Eva ihm zu. Dabei will Martin doch nur wischen!

Ich hüpfe also durch die inselartigen trockenen Stellen und versuche, ohne nasse Socken zu bekommen, den Tisch zu decken. Beim gemütlichen Frühstücken werde ich nochmals daran erinnert: „Gibt gleich Mittagessen!“. Ich räume gerade den Kühlschrank ein, da fängt Martin schon an abzuwaschen. Wow, was ein Luxus. Da fällt Martins Knüpf-Teppich mir ins Auge, der ja schon fast fertig ist, nur noch umgenäht werden muss. Dann tue ich dem Martin auch mal was Gutes, denke ich und fange an, seinen Teppich umzunähen. So arbeiten wir beide nebeneinander und unterhalten uns darüber, wann wir wohl den nächsten „Ananasmusi“ (Ananas-Smoothie) machen, dass Martin ja sowieso nicht mehr zu Nachbarschaftsabenden geht und auch keinen Küchenaufräumdienst mehr übernehmen möchte, wann der nächste Bus nach Salzwedel fährt oder wen wir alles vermissen müssen. „Die kleine Miriam!“, ruft er da ganz aufgebracht, und für eine kurze Zeit schwelgen wir beide in Erinnerungen an die Miriam, die hier eine Zeit lang mit uns gewohnt hat. Ja, wir vermissen Miriam beide sehr. Als ich das nächste mal von meiner Näharbeit aufblicke ist Martin ohne Abschiedsworte bereits weg. Das ist so seine Art. Stimmt, es gibt ja gleich Mittagessen im Regiohaus!

Ein Kind hüpft durchs Regiohaus. „Es gibt Nudeln, Nuuudeln.“ Alle bilden einen Kreis und das Essen wird vorgestellt. Nur einer bleibt am Rande sitzen und grummelt: „Ich mach ja sowieso keinen Kreis mit. Guten Appetit!“ Es gibt eine kurze Stille vorm Essen, damit der Koch Stefan auch einmal durchatmen kann „So, jetzt kann der Stefan mal sagen, was es gibt.“, kommt ein Kommentar von dem, der ja sowieso kein Kreis mitmacht. „Nudeln, Soße, Salat“ brummt es noch, bevor der Koch das Wort ergreifen kann. Stefan: „Herzlich Willkommen zum Mittagessen. Heute gibt es Nudeln, leckere Tomatensauce, Salat und Hirse  …. Lasst es euch schmecken.“  „Guten Appetit!“ „Guten Appetit“ wird von Martin laut durch den Raum gerufen, während sich die ersten schon auf das leckere Essen stürzen. Martin hingegen bleibt sitzen. Er wartet bis das Gedränge vorbei ist, und als er dann aufsteht gibt es nur noch Hirse, keine Nudeln. Unser Tischgespräch ist heute das Thema Müll. Wer uns zuhört weiß jetzt also auch, wann das nächste mal Altpapier abgeholt wird. Als ein junger Freiwilliger vorbei läuft, um sich Essen zu holen, spricht Martin ihn gleich glücklich an „In der JuLe-Küche muss der Gelbe Sack auch bald wieder geleert werden.“ Martin hat den vollen Überblick über die wirklich wichtigen Termine in Sieben Linden!

Beim Abwasch fällt mir auf: Das Spülwasser ist ja kalt! Und das, obwohl es noch ganz frisch aussieht!? Wahrscheinlich hat Martin das Wasser eingelassen, denke ich und freue mich. Wo Martin überall ist und was er alles macht, schon erstaunlich. Und da höre ich auch schon wieder ein „Fröhliche Weihnachten“ aus der Ferne. Als ich das Regiohaus verlasse, trägt Martin gerade die Post zu den Postfächern. Noch so eine Hintergrundaufgabe die er einfach erledigt. Wie schön!

Als ich nach Hause komme, liegt meine Post bereits auf meinem Bett. Martin steht schon bei Eva im Büro. „Kloeimer leeren.“ Ach, stimmt, heute ist ja Donnerstag. Der Klo-Leerungs-Tag. Etwas widerwillig, aber sich ihrer Verantwortung bewusst, lässt Eva ihre Büroarbeit ruhen, um mit Martin die Kloeimer aus der Trockentrenntoilette zum Kackekompostplatz zu karren. Am späten Nachmittag sitzt  mein Onkel in unserer Küche und hat sich Freunde zum Türmchenspielen eingeladen. Jenga, ein Spiel das eigentlich sehr viel Feinmotorik braucht. Ab und an ein Krachen, gefolgt von einem lauten Lachen. „Umgekippt“, lacht eine kräftige Männerstimme.

Als ich fünf Minuten zu spät zum Abendessen komme, klingt mir ein „Frohes Wochenende“ entgegen. Diesmal hat er recht, es ist ja tatsächlich bald Wochenende. Aussagen, wie „Frohes Wochenende“ oder „Fröhliche Weihnachten“ werden von Martin eigentlich an jedem Wochentag, und auch zu jeder Jahreszeit eingesetzt. Da kann es schon mal vorkommen, dass man von Martin ein „Schönes Wochenende“ an einem Dienstag, oder ein „Frohes Weihnachten“ im Sommercamp gewünscht bekommt.

Langsam wird es in unserer Wohnung stiller, nur die Titelmusik vom Sandmännchen dringt leise aus Martins Zimmer an mein Ohr. Und das Tippen der Tasten aus Evas Büro. Die Ruhe wird von einem Telefonklingeln unterbrochen und Martin nutzt die Gelegenheit um uns zeitgleich lautstark mitzuteilen, dass nächste Woche Ältestentreffen ist. „Ältestenstreffen! Nächste Woche ist wieder Ältestenstreffen!“ Nach ein paar Wiederholungen dieser Aussage rufe ich kurz ein „Mhm, okay!“ in Richtung Martins Zimmer. Damit wäre die Ruhe zum Telefonieren auch fast wieder hergestellt.

Spätabends ist die Salzlampe in Martins Zimmer an. Eine CD läuft im Hintergrund. Doch die CD hat einen Sprung. „Ohh du Fröhliche. Ohh du Frööh- ohh du …“. Egal, denke ich und lege mich mit einem Buch ins Bett.

Karina Stützel

Wir haben in der Weihnachtszeit einen Podcast mit Karina, Martin und Eva aufgenommen. Hört gern rein, wenn Ihr diese integrative Familie näher erleben möchtet.

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