Beamer dunkel, Münder unbewegt. Poesie einer Vertretungsstunde. 

Ich komme aus dem Unterricht.
Herr P. kommt mir entgegen
Mit diesem Lächeln
Von dem ich weiß, was es bedeutet.
Vertretung.
Also nicht aufs Klo.

Zur Schulleitung.
Also nicht vom Brot abbeißen.
8 c auf Exkursion?
Ach ja.
Vertretung in der 6 d?
Oh Schreck.
Raumtausch?
Na gut.

Den Beamer anschalten.
Und den PC.
Beide bleiben stumm.
Die Wand noch weiß.
PC fährt nicht hoch.
Das Kabel nicht angeschlossen.
Ein Wackelkontakt.
Stundenklingeln.
Die Wand ist jetzt blau.
Es piept.
Hintergrundrauschen.
Der PC ist nicht tot.
Er braucht nur Zeit,
die ich nicht habe.
Verschwendung meiner Lebenszeit
Und die der Schüler:innen.
Die Quelle wird nicht gefunden.
PC kennt mein Passwort nicht.
Googles Bedingungen,
die ich überhaupt nicht akzeptiere,
AKZEPTIEREN
Zum zehntausendsten Mal.

Die Seite von ecosia wird nicht aufgebaut.
In der Schule kann ich mit einer Suchmaschine
Keine Bäume pflanzen.
Stattdessen mache ich
Einen Centimilliardär
noch reicher.

Da – wir sind drin.
Wir können beginnen.
Minuten nach dem Klingeln.
schweißgebadet.
Nerven flattern.
Bauch hungrig
Mund kreidetrocken.
Trinken im Computerraum
Verboten.
Material noch nicht ausgepackt.
Klassenbuch fehlt.
Unruhige Klasse.
Einer kaut seelenruhig
An seinem Brot.
Warum darf ich das nicht?
Wo waren wir stehen geblieben?
Ich konnte noch nicht innehalten
Um mich zu erinnern
Oder es nachzuschauen.

Jetzt weiß ich gerade nicht
Warum ich das mache.
Warum das wichtig ist.
Die Schüler:innen wissen es auch nicht.
Sie wollen es von mir wissen.
Doch ich bleibe stumm
Auf den Inhalt konzentriert:
Appositionen bestimmen
Und das Präpositionalobjekt.

Stumm fragen die Schüler:innen mich:
Warum muss ich hier sein?
Wofür brauche ich das?
Welche Welt wartet auf mich?
Bereiten Sie mich darauf vor?

Stumm antworte ich:
Wer die Sprache beherrscht,
hat Macht.
Denn die Grenzen meiner Sprache
Sind die Grenzen meiner Welt.
Jedenfalls meistens.
Jedenfalls in der Welt,
in der wir zusammen sind.

Ich kenne auch eine andere Welt,
eine Sprache jenseits der Worte:
Die Sprache der Gefühle und
der Empfindungen,
der Wahrnehmungen
und der Intuition,
der Bewegungsimpulse
und der Liebe.

Doch all diese Sprachen
Kann ich in der Schule nicht lehren.
Darüber schweigt der Lehrplan.
Und so kann ich die Sprachen
Auch nicht sprechen
Ohne Irritationen auszulösen
Oder überhebliches Lachen
Oder Ablehnung
Oder Abwertung.
Und so schweigen wir
aneinander vorbei
bis zur nächsten Stunde.

Wo wir wieder sprechen
Über Allegorien und Epochen,
Metren und Zäsuren,
Jamben und Kadenzen.

Die Beamer dunkel.
Die Münder unbewegt.
Die Herzen stumm.

Die Autorin Alexandra Gottwald ist Lehrerin, lebt seit 12 Jahren in Sieben Linden. Sie arbeitet seit 10 Jahren an einem staatlichen Gymnasium, nachdem sie vorher eine Freie Schule in der Region Altmark mit aufgebaut hatte.

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