Altmark, Sachsen-Anhalt: Schule in der Krise?

Das staatliche Schulsystem in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus navigiert auf Krisenkurs. Privatschulen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Das Ökodorf Sieben Linden hat keine eigene „Freie Schule“, aber der ganz überwiegende Teil unserer Kinder besucht private Schulen in der näheren und weiteren Umgebung. Henning aus dem Ökodorf schildert seine Beobachtungen aus Sicht eines Lehrers an der Freien Schule Altmark, einer kleinen, reformpädagogischen Grundschule in etwa 20 km Entfernung.

Das staatliche Schulsystem steckt tatsächlich in einer Krise. Am offenkundigsten wird sie momentan im Lehrer:innen-Mangel und in den damit einhergehenden Lücken in der „Unterrichtsversorgung“. Um diesen technischen Terminus beispielhaft mit Leben zu füllen: Einer siebten Klasse wird ein Jahr lang der Sportunterricht gestrichen, weil die Sportlehrkräfte dringend benötigt werden, um in ihrem Zweitfach zu unterrichten. Für den (offensichtlich als vernachlässigbar eingestuften) Sportunterricht bleibt keine Arbeitszeit übrig. An anderen Schulen oder in anderen Jahrgangsstufen betrifft es nicht das Fach Sport, sondern häufig die Fächer Musik, Fremdsprachen oder Naturwissenschaften. Vermehrt wird fachfremd unterrichtet: Lehrkräfte werden für Fächer eingesetzt, für die sie ursprünglich nicht ausgebildet wurden.

Statt der anvisierten Unterrichtsversorgung von 103 % (um auch Krankheitsausfälle vertreten zu können), müssen gerade in Sachsen-Anhalt zahlreiche Schulen mit einer rechnerischen Unterrichtsversorgung von nur 80 bis 90 % klar kommen. Das ist erheblich.

In den jährlichen „Schulleiterdienstversammlungen“ (Zusammenkünfte regionaler Schulleitungen) in der Altmark ist seit Längerem eine wachsende Belastung, Unzufriedenheit und Frustration über die Zustände vernehmbar.

Unsere Landespolitik versucht sich in kreativen (?) Lösungen: Headhunter werden beauftragt, Lehrkräfte aus anderen Bundesländern abzuwerben. Geworben wird mit Zusatzprämie und schneller Verbeamtung (was mitunter den Argwohn etablierter Lehrkräfte weckt, die seit Jahren ohne Zusatzprämie ihren Dienst tun und vielleicht auch schon jahrelang auf ihre Verbeamtung warten). Alle landesbediensteten Lehrkräfte wurden verpflichtet, eine Stunde zusätzlich zu unterrichten, um den Mangel durch Zusatzarbeit des vorhandenen Personals auszugleichen. Einer Lehrerin aus unserem Altmarkkreis, die sich dieser Zusatzstunde verweigerte, wurde fristlos gekündigt. Andere Lehrer:innen verweigerten sich nicht, aber beklagten die ungeliebte zusätzliche Pflichtstunde vor Gericht. Ein erstes Urteil des Arbeitsgerichtes Stendal vor einigen Tagen gab der Klage recht. Die Folgen sind noch nicht absehbar.

Ansonsten wird mit verkürzten Unterrichtsstunden (40 statt 45 Minuten) experimentiert, um im Laufe eines Schultages immerhin eine halbe Lehrerstunde einzusparen. Oder mit der Vier-Tage-Woche für Schülerinnen und Schüler. Am fünften Tag sollen die Kinder dann zu Hause lernen. Distance-Learning. Als ob dies in der Corona-Zeit so gut geklappt hätte. Die Rückstände aus jener Zeit der Schulschließungen und Distanzbeschulung konnten nachfolgend nicht wieder aufgefangen werden, wie zahlreiche Studien belegen. Von den seither signifikant gehäuften psychosozialen Problemen unter Kindern und Jugendlichen ganz zu schweigen.

In Sachen-Anhalt bemüht sich das Bildungsministerium derzeit, die Zuständigkeit auch für die Nachmittagsbetreuung von Kindern zu erlangen (und somit Ganztagsbeschulung auf breiter Front einzuführen). In unserem Bundesland gibt es schon seit vielen Jahren einen Anspruch für Eltern auf ganztägige Betreuung ihrer Kinder. Diesem Anspruch wird derzeit durch Horte Rechnung getragen, die organisatorisch den Kindertagesstätten angegliedert sind und somit letztlich dem Sozialministerium unterstehen. Man unkt, dass es weniger bildungspolitische Ideale sind, die die Bildungsministerin nun antreiben, als vielmehr die Aussicht auf Übernahme des Hortpersonals, um dann im Rahmen der Ganztagsbeschulung zumindest eine ausreichende (und kostengünstigere) Betreuung gewährleisten zu können. Dies ersetzt natürlich weiterhin nicht den ausfallenden Englisch-Unterricht, ist aber besser als totaler Unterrichtsausfall.

Auch jenseits des Lehrkräftemangels gäbe es Stoff für zahlreiche kritische Anmerkungen zum derzeitigen Zustand des Schulsystems.

Einhergehend mit den ungünstigen Zuständen an vielen staatlichen Schulen erfreuen sich Schulen in freier Trägerschaft wachsender Beliebtheit. Auch in unserer Region möchten zahlreiche Elternhäuser ihre Kinder lieber nicht mehr in die kriselnden Regelschulen geben. Das sind nicht nur Wohlhabende, sondern vor allem diejenigen, denen die Schulbildung und die Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes so wichtig ist, dass sie hier Schulgeld investieren und dafür anderen Luxus einschränken. Und Familien, die sich aufgrund schlechter Erfahrungen mit der Regelschule, aufgrund von Leidensdruck, nach Alternativen umsehen.

Die Schüler:innenzahlen an den regionalen Privatschulen wachsen langsam, aber stetig, regional und bundesweit. Jahr für Jahr bereichern neu gegründete freie Schulen die Schullandschaft. An freien Schulen ist selbstverständlich nicht immer alles besser, aber zumindest vieles anders. Gerade in den letzten Jahren war ich als seiteneingestiegene Lehrkraft an der Freien Schule Altmark in Depekolk schon ungezählte Male sehr froh, den verzweifelten Regelungsversuchen und Krisenbewältigungen des Bildungsministeriums nicht direkt ausgesetzt gewesen zu sein. Wir stehen als kleine Schule mit nur 50 Kindern auch vor Schwierigkeiten und Herausforderungen, können sie aber auf unsere Weise angehen, partizipativ und selbstwirksam. Wir können angepasste Lösungen entwickeln und alles in allem einen beachtlichen Grad von Zufriedenheit bei Pädagog:innen, Kindern und Eltern erzeugen. Und das trotz einer im Vergleich mit staatlichen Schulen deutlich schlechteren finanziellen Ausstattung.

Manches spricht dafür, dass selbstverwaltete, kleinere Systeme besser aufgestellt sind in diesen Zeiten, wenn sie denn über Gestaltungsspielraum verfügen. Gut für alle wäre aber sicher auch eine umfassende, reformierende, menschengemäße Bildungswende!

Henning Britsch

HIER geht es zum Podcast, den wir mit Henning und einigen Kindern zum Beginn dieses Schuljahres zu Thema „Freie Schule“ aufgenommen haben.

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