Nach Lützerath und vor der (Klima-)Katastrophe: Widerstand zwischen Legalität und Legitimität

Vier Vertreter*innen verschiedener Widerstands-Bewegungen finden sich am 5.2.2023 auf dem
Podium im Ökodorf Sieben Linden ein: Anja (Letzte Generation), Carl (Klimagerechtigkeit, zuletzt
„Lützi bleibt“), Katja Tempel (Anti-Atom „runterfahren“), Tobi Rosswog (VW = VerkehrsWende).
50 Zuhörer*innen aus der ganzen Region haben sich eingefunden und folgen der 90-minütigen
Veranstaltung.
Ein Plakat hängt an der Wand:


„Wir müssen schnell handeln. Was wir in den nächsten zwei bis drei Jahre tun, wird über die
Zukunft der Menschheit entscheiden.“ – Sir David King. 2021 (Wissenschaftler, Klima-Berater, britisches Außenministerium)

Carl aus Sieben Lindenist 23 Jahre jung und hat bereits bei Ende Gelände im Hambacher Forst und in Lützerath mitgemacht. „Ich war früher bei der GRÜNEN Jugend. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich nicht wirksam genug fühle in dem Parteigefüge. Auch die jüngsten Entscheidungen der GRÜNEN zum Braunkohleabbau in Lützerath haben mich darin bestärkt, zivilen Ungehorsam zu leisten und mich mit meinem Körper gegen eine falsche Politik einzusetzen.“

Katja Tempel hat seit den 90er Jahren die Anti-Atom-Bewegung im Wendland mitorganisiert. Ihre neue Initiative heißt „runterfahren“ „Mit gewaltfreien Aktionen wie Warnblockaden bauen wir ein Drohszenario auf: Wenn nach dem 15.4.2023 weiterhin AKWs am Netz bleiben, werden wir wieder Groß-Aktionen starten. Ziviler Ungehorsam muss sein, wenn der Atomausstieg nicht, wie eigentlich beschlossen, zu Ende gebracht wird.“

Tobi Rosswog steht für eine junge Wolfsburger Initiative, die aus dem VW-Konzern einen vergesellschafteten VerkehrsWende-Betrieb und aus der Autostadt eine VerkehrsWende-Stadt machen möchte: Straßenbahnen statt SUVs sollen vom Band gehen. Der Protest gegen den Neubau des VW-Trinity-Werkes zeigte bereits Erfolge. „Wie haben gesellschaftliche Veränderungen stattgefunden? Nicht indem Menschen um etwas gebeten haben, nicht über die Parteien – sondern, indem wir Regeln übertreten haben, indem viele Menschen auf den Straßen, Wäldern und Äckern Druck von unten machten.“

Anja war vor vielen Jahren als FÖJler*in für ein Jahr im Ökodorf und hat mit anderen Sieben Lindner*innen bei den Castor-Aktionen mitgewirkt. „Heute leiste ich zivilen Ungehorsam gegen die fatale Klimapolitik. Spätestens mit Ende dieses Jahrhunderts werden Wassermangel, Nahrungsmittelknappheit, Flüchtlingsströme und Bürgerkriege unsere Zivilisation beenden, wenn wir nicht sofort handeln. Die Letzte Generation blockiert insbesondere Straßen. Sie stört und nervt und ist massiv in den Medien. Wir haben konkrete Forderungen.“Anja erläutert das von der Letzten Generation geforderte demokratische Instrument eines Gesellschaftsrates. Dieser soll für die Bundesregierung verbindliche Vorgaben dazu erarbeiten, wie Deutschland bis 2030 das wissenschaftlich geforderte Nullemissionsziel erreichen kann.“

Frage aus dem Publikum: „Was ist „Die Letzte Generation“ eigentlich?“ „Wir sind eine Kampagne, man kann als Einzelperson oder als Organisation mitmachen, man kann spenden.“ Auf die Frage, warum die letzte Generation so stark nach neuen Gesetzen und dem „autoritären Staat“ ruft, antwortet Anja: „Ich bin keine Freundin von autoritären Entscheidungsprozessen, aber wir sind in einer Situation, in der wir nicht viel Zeit haben. Unsere Forderungen entsprechen Umfrageergebnissen, die Mehrheit aller Deutschen sind bereit für die neuen Klima-Gesetze.“

Auf die Frage der Moderatorin Gabi Bott nach den persönlichen Kraftquellen der Aktivist*innen kommen verschiedene Antworten:

Katja: „Die Aktionen selbst geben mir Kraft. Wir organisieren uns basisdemokratisch und erleben eine Gemeinschaftsaktion. Es sollte sowohl Spaß wie auch Sinn machen – und das ist mir in den letzten Jahrzehnten immer gelungen.“

Carl: „Manchmal bin ich nach Aktionen auch ziemlich fertig wiedergekommen und konnte mich fallenlassen. Das ist nicht nur meine Privatsache, sondern die Menschen zu Hause im Ökodorf halten den Rahmen für mich.“

Anja: „Es gibt gegen uns als Letzte Generation Drohungen und massive Kritik, aber ebenso viel Zuspruch. Mir gibt es Kraft, dass wir immer mehr werden in der „Letzten Generation“ und wenn ich andere zum Mitmachen ermutigen kann.

Tobi: „Aus der Ohnmacht ins Machen kommen! Eine Handvoll Menschen kann es schaffen, einen ganzen Konzern lahmzulegen!“

Anja auf eine Frage nach Bedrohungen aus dem Publikum: „Ja, die letzte Generation wird bedroht, bisher ist es meist bei verbalen Angriffen geblieben, direkt bei den Aktionen und über Trolle im Internet.“ Was riskieren die Aktivist*innen? Aktionen wie beispielsweise Besetzungen können auch herausfordernd bis traumatisch laufen: Polizeigewalt, Ingewahrsamnahme, Verhöre, Gerichtsprozesse. Katja: „In der Zelle bist du auf dich selbst zurückgeworfen.“ Der Widerstand habe Unterstützungsstrukturen geschaffen, die nach solchen Erlebnissen Unterstützung geben können, „Psychologists for Future“ beispielsweise. Es gebe aber nicht nur die riskoreichste Widerstandsform auf der Straße. Es brauche auch Menschen im Hintergrund, die kochen und versorgen, psychologisch beraten, Öffentlichkeitsarbeit machen usw., jede*r kann sich einbringen.

Die vier auf dem Podium sind sich einig „Wir stehen bei der Klimabewegung an einem Punkt, wo es bald eine kritische Masse gibt“. In der Transformationsgeschichte habe es bahnbrechende politische Erfolge gegeben, sobald eine relativ kleine kritische Masse sich mit Entschlossenheit engagierte, manche sprechen von 2 % der Bevölkerung.“ Kommentar aus dem Publikum: „Es gibt 2000 Autobahnauffahrten bundesweit und man braucht pro Autobahnauffahrt-Blockade 7 Menschen“.

Hier sprachen wahrlich keine „Klimaterrorist*innen“ – wie es auch die Jury der Philipps Universität Marburg mit dem Prädikat „Unwort 2022“ auf den Punkt gebracht hat. Wir lernten vier Persönlichkeiten kennen, die mit hohem persönlichen Einsatz uneingennützig für ihre und unser aller Sache eintreten. Besonders kontrovers war die Diskussion am Sonntag nicht, obwohl es auf dem Podium einen freien Stuhl zur eigenen Meinungsäußerung gab. Es scheinen der öffentlichen Einladung kaum Menschen gefolgt zu sein, die Argumente gegen zivilen Ungehorsam vorbringen wollten.


https://runterfahren.org/
https://verkehrswendestadt.de/
https://letztegeneration.de/
https://www.psychologistsforfuture.org/


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