Unglaublich! Gemeinsam haben wir’s geschafft! Das Bietverfahren…

Wir, die über 100 Erwachsenen im Ökodorf, haben das gesamte Geld für unsere Lebensmittelversorgung bedarfsgerecht zusammengetragen. JUHU! Mit gleichem Festpreis für jede:n wäre das keinen Artikel wert. Doch wir haben nun jede:r einen frei gewählten Beitrag in den Topf geschmissen. Echt jetzt? Ohne sich untereinander abzusprechen? „Das wird doch schamlos ausgenutzt! Das kann doch gar nicht funktionieren!“ Oder doch? Wie ist das möglich? Hier gibt’s die Antworten: 

Ich selbst kann es immer wieder gar nicht glauben, wenn ich ausschließlich auf die Zahlen gucke. Die geringste Einzelzahlung liegt etwas unter 70 EUR. Dabei beträgt die Jahresgesamtsumme für alle Lebensmittel der Ökodorfbewohner:innen, jung und alt, fast 290.000 EUR. Es liegt nah, hier das Vertrauen zu verlieren: „Das kann doch gar nicht funktionieren!“. Und doch klappt es. Nun schon das zweite Jahr in Folge! Eigentlich unbeschreiblich, das muss erlebt werden. Trotzdem will ich versuchen zu erläutern, wie dieses Experiment funktioniert, weil ich das Verfahren für bahnbrechend und zukunftsfähig halte. Weil es eben bei uns und an vielen anderen Orten immer wieder klappt. Und weil ich meine Freude über so viel gelebte Gerechtigkeit teilen möchte.

Was ist ein Bietverfahren? 

„Bietverfahren“ nennen wir es. Es kommt aus der Bewegung der Solidarischen Landwirtschaft (kurz: Solawi). Seit meinem ersten euphorischen Erlebnis vor über 15 Jahren habe ich solch ein Bietverfahren häufig miterlebt, teils auch mitorganisiert. Es waren die unterschiedlichsten Zusammenhänge und Gruppengrößen. Mit über 100 Menschen in Sieben Linden ist es jedoch eine besondere Herausforderung. Warum? Weil es undenkbar ist, über 100 Menschen einer emsigen Gemeinschaft zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu versammeln. Meiner Erfahrung nach ist jedoch ein wesentlicher Bestandteil, sich gegenseitig wahrnehmen und erleben zu können, wie es der jeweiligen Person damit geht, Betrag X zu geben. Und dann das gemeinsame Ergebnis auch gemeinsam zu feiern. Unseren Trick, wie wir diese Herausforderung geschafft haben, verrate ich weiter unten.

Über Geld sprechen und Gefühle äußern? 

Viele sind an dieser Stelle sicher etwas verunsichert. „Über Geld sprechen? Und dabei auch noch Gefühle äußern? Über Geld spricht man doch nicht! Und überhaupt, was gehen mich die Verhältnisse meiner Nachbar:innen an!“ Diese Glaubenssätze kenne ich aus meiner Kindheit. Verstanden habe ich sie nie. Was ich anstelle dieser Befürchtungen real bezeuge: Immer wieder große Befreiungserlebnisse, wenn die Scham erst einmal überwunden ist. Und dass einem mit Wohlwollen begegnet wird.

Am meisten hat mich eine Aussage berührt: „Während wir Häuser bauen ist meine Auftragslage meist auch ausreichend für den Lebensunterhalt. Doch gerade gibt es keine Baustelle. Ich mache daher viel ehrenamtlich fürs Dorf. Ich würde gern mehr geben. Es macht mich traurig, dass ich das nicht kann und gerade von wenigem Ersparten lebe. Ich bin dankbar, dass die Gesamtheit im Dorf das abfedert, bis die Auftragslage besser ist.“

Praxisbericht: Bietverfahren in Sieben Linden

Wie setzten wir nun das Bietverfahren um? Bietverfahren funktionieren ganz so, als würden wir gemeinsam eine Mahlzeit kochen, ohne die Zutatenauswahl und -menge vorher abzusprechen. Wir wüssten nur, für wie viele gekocht werden soll. Während des Kochens sprechen wir darüber, wem es wie mit den mitgebrachten Zutaten, der Verarbeitung geht, welche Gänge gekocht werden. Und am Ende kommt eine wunderbare Mahlzeit heraus.

Was heißt das für die Jahreslebensmittelkosten in Sieben Linden? Ganz einfach: Der erste Schritt ist das Benennen der Zielsumme durch die Organisation, die die Ausgaben tätigt. In unserem Fall sind es die Jahreskosten für unsere Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel des gesamten Dorfes. Im zweiten Schritt ist jede:r einzeln gefragt. Jede:r sagt, wie viel si:er in diesem Jahr monatlich geben möchten – also welchen Anteil si:er übernehmen wird. Einige geben beispielsweise 260, andere 400 und wieder andere 120 pro Monat. Ähnlich einer Auktion, nur dass alle Gebote zusammen zählen und nicht nur eine Person „gewinnt“. Im dritten Schritt werden dann alle Gebote zusammengerechnet. Ist die Zielsumme noch nicht erreicht, wird der Fehlbetrag bekannt gegeben. Alle treffen sich erneut, um ihre Gebote zu erhöhen, bis die Zielsumme erreicht ist.

Im Grunde sind also zwei Faktoren wichtig, die gleichzeitig verwirklicht werden wollen: Erstens muss am Ende jede Person zufrieden mit dem eigenen Gebot sein, egal wie hoch es ist. Zweitens muss die Zielsumme erreicht worden sein. Es passiert häufig, dass der Zielbetrag nicht auf Anhieb zusammenkommt. Dann wird errechnet, was noch fehlt und alle prüfen für sich, was sie noch drauflegen wollen, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Da arbeitet viel in einem! Es geht um Fragen wie „Bleibe ich in meinen Grenzen, wenn ich um X erhöhe?“, „Erwarte ich von anderen, um X zu erhöhen?“, „Was denken andere von mir bei meinem Gebot?“ oder „Es fehlt noch soooo viel, ich kann aber unmöglich einen größeren Teil davon reingeben. Wie sollen wir das nur schaffen?“.

Erfahrungsgemäß sind einige am Anfang überfordert, „einfach so“ aus einem Gefühl heraus einen Betrag zu nennen. Menschen wollen verantwortlich handeln, wollen fair sein. Das funktioniert vermeintlich nur – so haben es die meisten von uns kulturell gelernt – wenn genau abgerechnet wird. Doch – Hand auf’s Herz – würden wirklich alle Konsequenzen in diese „Abrechnung“ einbezogen (und nicht nur das Naheliegende), dann würde es richtig anstrengend. Ob es dann wirklich gerecht wäre, bleibt trotzdem fraglich. Auf Abrechnen basiert das derzeitige Gesellschaftssystem. Dort sehen wir die schreiende Ungerechtigkeit größer und lauter werden (Hintergrund: Soziale Schere). 

Es gibt viele Ansätze, beim Bietverfahren die anfänglichen Hürden zu erleichtern. In Sieben Linden bietet unser Verfahren sogenannte Richtwerte an, z.B. den Durchschnittswert pro Person als „Geländer zum Festhalten und Sich-Ausprobieren“. Würden alle genau diesen Richtwert in den Topf geben, wäre die Zielsumme erreicht. In der Praxis zeigt sich, dass einzelne Menschen deutlich weniger als den Richtwert geben, andere wiederum mit mehr als dem Richtwert ganz zufrieden sind und somit insgesamt die Zielsumme erreicht wird.

Wie kann Bieten in großen Gruppen funktionieren? 

Und nun der Trick, wie das für uns mit über 100 Menschen klappt. Die ersten zwei Anläufe (bei uns „Bietrunden“ genannt) finden in Kleingruppen von ca. 15 Menschen statt. Jede dieser Gruppen bekommt die anteilige Summe als Gruppenziel von der „gemeinsam zu kochenden Gesamt-Mahlzeit“. In diesem Bild könnte das die Vorspeise sein. Jede Kleingruppe hat einen eigenen Termin mit Bietrunde 1 und 2. Es zeigt sich, dass manche Kleingruppen nur eine Runde brauchen und andere auch nach Runde 2 das Gruppenziel noch nicht erreicht haben. Ist die Zielsumme insgesamt nach Runde 2 aller Kleingruppen noch nicht erreicht, kommen wir zu einem Gesamttermin für Runde 3 zusammen. In Runde 3 sind Gebote per Vollmacht an eine anwesende Person möglich. Viele erlebten Bietrunde 3 als sehr verbindend.

Das Gefühl der Verbundenheit setzt Potentiale frei 

Vor wenigen Wochen haben bei uns 40 Menschen in einem Raum erlebt, wie auf magische Weise die Gesamtsumme erreicht wurde. Wenn das passiert, habe ich bisher regelmäßig erlebt, dass große Freude und spontaner Jubel ausbricht. Viele klatschen. Fasst so, als würde grad die fünfstöckige Torte mit brennenden Lichterkerzen hereingetragen. Ich hab schon Freudentränen und Umarmungen erlebt, weil es einfach so unglaublich ist.

Für mich ist diese Freude über das auf magische Weise gemeinsam Erreichte allerdings nicht der einzige Grund, warum ich so begeistert bin von dieser einfachen und doch wirksamen Art, viel menschlicher zu wirtschaften. Wichtig sind mir zwei weitere Aspekte: Zum Einen können viele Ungleichheiten auf ganz einfache, emanzipatorische und unbürokratische Weise fast „nebenbei“ geglättet werden. Nicht nur ökonomische Ungleichheiten, sondern auch manche mit finanzieller Ungleichheit einhergehende Ungleichheit. Da sich Menschen viel freier und leichter fühlen können, agieren sie meist auch freier im Alltag und trauen sich mehr. Das setzt ungeahnte Potentiale frei. Zum Anderen entsteht ein Gefühl der Verbundenheit, dass keine klassische Abrechnung je erzeugen kann. Wie verbindend ist es in der aktuell dominierenden Wirtschaftsweise, im Supermarkt neben Massen anderer Produkte am gewählten Produkt auf ein Preisschild zu gucken, um dann zur Bezahlung ungeachtet der eigenen finanziellen Möglichkeiten im wahrsten Sinne des Wortes kontaktlos zu bezahlen?

Eine bessere Welt ist möglich

Am Abend nach Bietrunde 3 bin ich glückselig eingeschlafen mit einem weiter gewachsenen Vertrauen: Eine bessere Welt ist möglich! Wir leben sie live und in Farbe! Ich träumte von einer Welt, in der wir uns gegenseitig ohne Zaudern anerkennen, wie wir sind und einander gegenseitig mittragen. In meinem Traum haben wir Potentiale geweckt, von denen wir nicht einmal wussten, dass sie in uns schlummerten. Die Kontinuität unserer überwiegend positiven Erfahrungen in Sieben Linden und anderen „Inseln der Beweise“ bestärkt mich, weiter in möglichst vielen Zusammenhängen im Miteinander die Kosten gemeinsam und verbindend zu tragen. Und darüber Ungleichheiten in Balance zu bringen. Zu diesen Inseln gehören meine Seminare in Sieben Linden und das Coaching für Persönlichkeitsentwicklung, das ich in Magdeburg und der Altmark anbiete, wobei ich mit weiteren Formen des verbundenen Wirtschaftens auf Basis von Schenkökonomie arbeite.

Für dieses Bietverfahren gilt bei uns in der Gemeinschaft wie bei jeder Mahlzeit: Vielen schmeckt es wunderbar, manche finden es „ganz interessant“ und manche macht es „nur“ satt – ganz normal also. Probier doch mal im Freundeskreis den nächsten Grillabend oder das nächste Fest per Bietverfahren zu finanzieren. Bist du unsicher? Sprich mich ruhig an, ich helfe gern!

– Solidarische Landwirtschaften 

– Antworten auf häufige Fragen einer Stuttgarter Solawi 

Björn Hahn

intuitiv-natürliches Coaching mit „beziehungsweise natürlich“

Trauer-Seminar mit Björn Hahn in Sieben Linden mit Finazierung durch „Teilnahmebeitrag nach Selbsteinschätzung:

28.08. – 04.09.2024 Das Leben lieben, die Trauer willkommen heißen.
Ein Trauer Ritual zum spüren, bewegen und loslassen.

Weitere Hinweise zum Bietverfahren: 

https://www.solidarische-landwirtschaft.org/fileadmin/media/solidarische-landwirtschaft.org/Solawis-aufbauen/Vorlagen-Dokumente/Netzwerk-Solawi-Beitragsgestaltung.pdf

https://www.solidarische-landwirtschaft.org/fileadmin/media/solidarische-landwirtschaft.org/Solawis-aufbauen/Vorlagen-Dokumente/Netzwerk-Solawi-Bieterrunde.pdf

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