Ökodorf Sieben Linden Podcast

Ein neues Jahr beginnt. Wir stecken tief drin in globalen ökologischen und gesellschaftlichen Umbrüchen und es fällt schwer optimistisch in die Zukunft zu schauen. „Frohes neues Jahr“ geht bestimmt vielen nicht so leicht über die Lippen. Dafür gibt es neben der Corona-Krise viele Gründe … Klimawandel und Artensterben sind im vollen Gange und viele Menschen und andere Lebewesen leiden schon massiv darunter.
In Ohnmacht zu verharren oder in einen überfordernden Aktivismus zu gehen sind keine gesunden Mechanismen. Was ist die Alternative? Tiefenökologie bietet einen Raum, auch schwierige Gefühle nicht zu verdrängen, sondern sie zu spüren. Herz und Verstand wieder in Verbindung bringen führt in die Handlungsfähigkeit, die Joanna Macy, Begründerin der Tiefenökologie, „Active Hope“ nennt. Gabi Bott ist Joana Macys Schülerin seit 25 Jahren und gibt ihr Erfahrungswissen in Workshops und Trainings weiter.
Diese Podcast-Folge macht Mut in einer herausfordenden Zeit. Begegne dem Chaos, ohne verrückt zu werden! Frohes neues Jahr!

Links:
www.gabibott.de
Hier findest du ein Video mit Informationen zu Gabi Bott und ihrer tiefenökologischen Arbeit. 

05.-10.09.2023 Active Hope! Dem Chaos begegnen, ohne verrückt zu werden:
https://lernort.siebenlinden.org/de/613f1ae450c549dcaac3918f9e6ec48d/active-hope-dem-chaos-begegnen-ohne-verruckt-zu-werden

Onlinekurs mit Gabi zur Tiefenökologie:
Tiefenökologie – Dem Chaos begegnen, ohne verrückt zu werden.

Website: www.siebenlinden.org
Autorin: Simone Britsch
E-Mail: podcast@siebenlinden.org
Interviewpartnerin: Gabi Bott

Veröffentlicht unter der Creative Commons (CC BY 4.0)
Copyright Freundeskreis Ökodorf e.V., 1.1.2022

Der Podcast zum Lesen:

Simone: Hallo und herzlich Willkommen zur 22. Folge des Ökodorf-Podcast Sieben Linden.
Ich wünsche dir ein glückliches, gesundes neues Jahr. Aber wenn ich mich umschaue kriselt es ganz schön in der Welt. Wir haben ein heftiges Jahr hinter uns und wer weiß was für ein Jahr uns blüht.

Genau darüber spreche ich heute mit Gabi Bott. Gabi Bott vertritt die Tiefenökologie und sie schaut immer ein bisschen tiefer den Dingen auf den Grund. So geht es bei ihr um den Schmerz, den die Weltsituation oft bei uns Menschen auslöst. Um die Ohnmacht, um das nicht weiter wissen.

Aber bitte schalte jetzt nicht gleich ab, denn ich verspreche dir, dass wir am Ende dieser Folge mit Gabi über „Active Hope“ wieder in eine hoffnungsvolle Stimmung kommen. Die Arbeit der Tiefenökologie geht durch den Schmerz und gibt dir die Werkzeuge an die Hand, wie du in dieser Zeit in deiner Mitte ankommen kannst und wieder handlungsfähig wirst.

Simone: Hallo Gabi, ich begrüße dich ganz herzlich zu unserem Gespräch.

Gabi: Hallo Simone, danke für die Einladung und dass ich mit dir über meine Herzensarbeit sprechen darf.

Simone: Ein schönes neues Jahr habe ich dir gestern schon gewünscht. Wir waren gestern hier in Sieben Linden an dem riesigen Silvesterfeuer und sind gemeinsam ins neue Jahr gegangen. Da kamst du gerade aus deinem fünftägigen Retreat. Vielleicht fangen wir damit an: Was ist dir durch den Kopf, durch den Bauch gegangen in diesen Tagen? Wie gehst du ins neue Jahr?

Gabi: Wie gehe ich ins neue Jahr? Ruhig und in mir ruhend. Auch wenn es immer wieder ein auf und ab der Gefühle gibt. Aber es ist so die Basis, die ich gelegt habe, auch durch die fünf Tage in Stille sein. Im Haus der Stille zu sitzen gib mir eine Ruhe und Stabilität. Eine Stabilität in diesen außergewöhnlichen, verrückten, chaotischen Zeiten in denen wir gerade leben. Das hört ja nicht auf im neuen Jahr.

Simone: Nein. Wenn wir auf das letzte Jahr zurückblicken, dann ist natürlich ganz oben auf die Coronakrise. Aber du sagst ja auch immer: „Naja, die Coronakrise ist natürlich ein großes Problem, aber eigentlich auch eine kleine Krise, oder?“

Gabi: Ja, für mich ist die Coronakrise oder die Coronapandemie, die jetzt schon zwei Jahre läuft, eher eine kleine Herausforderung. Im Vergleich dazu was für eine riesengroße Welle auf uns zukommt, wenn wir uns mal umdrehen. Ich meine damit den Klimawandel.
Die Auswirkungen davon haben wir auch letztes Jahr in Deutschland gemerkt, z.B. mit der Flutkatastrophe im Ahrtal und der Dürre hier und weltweit.
Das ist auch die Globalisierung, die wir jetzt immer mehr merken. Nicht nur die Coronakrise, war eine weltweite Pandemie, sondern auch das Klima macht nicht an den Grenzen halt.

Simone: Ich denke auch diese Überflutungen im Frühjahr in Deutschland haben viele sehr bewegt. Was mich selber immer bewegt ist einfach die Langfristigkeit der anderen Krisen. Corona ist erst mal ein Virus, aber wenn ich bedenke das Artensterben, was so schleichend voran geht, das sind ja letztendlich nie endende Prozesse. Eine Art die ausgestorben ist wird nie wieder kommen und wird immer im Ökosystem fehlen. Das macht mich schon auch immer wieder sehr nachdenklich und erschüttert einfach den Glauben und die Hoffnung an die Zukunft.

Gabi: Ich finde es so verrückt, wenn ich mir vorstelle – was man so liest, was man so hört, was ich auch in meinen Tiefenökologie-Kursen, Workshops und Trainings sage – wir sind im sechsten Massenaussterben in der Evolutionsgeschichte.

Das ist doch Wahnsinn, oder? Das fünfte war vor 66 Millionen Jahren als die Dinosaurier ausgestorben sind. Da kam ein Meteorit der eingeschlagen ist.
Und jetzt das ist von Menschen gemacht. Ein Menschengemachtes Artensterben.
Ich stehe immer wieder da und denke: „Ne, also irgendwie kann das doch nicht sein.“

Ich komme gerade aus dem Retreat. Und das ist was ich übe wenn ich auf dem Kissen sitze oder wenn ich Gehmeditation mache. Ich übe ganz hier zu sein, in diesem Moment präsent zu sein und es anzunehmen wie es ist.
Weg reden kann ich es ja nicht . Ich kann ja nicht sagen: „Nö, das gibt’s nicht.“ oder „Ach, da hat sich irgendjemand verrechnet.“ oder was auch immer.
Sondern es anzunehmen und zu sagen: „Okay, es ist so wie es ist. Und was heißt das jetzt für uns?“

Simone: Ja, eine gute Frage. Ich gebe die gleich wieder an dich zurück Gabi. Was heißt das für dich? Was hast du in deinem Leben an Lösungen, Strategien dir erarbeitet damit umzugehen?

Gabi: Also ich bin so dankbar, dass ich vor 25 Jahren meine Herzensarbeit gefunden habe oder sie mich gefunden hat. Durch die Tiefenökologie, also tiefe Ökologie heißt tiefe Fragen an das Leben stellen, in mir stellen. Die Ursachen zu ergründen wieso ich so handle, wieso ich so denke, wieso das so ist.

Und auch in die Politik und Gesellschaft zu stellen, also nicht lockerzulassen die Ursachen zu ergründen und nicht nur die Symptome zu bekämpfen.

Man sieht überall in der Gesellschaft oder Global wird nur geguckt: „Okay da sind diese Symptome, mal schauen wie wir sie wieder reparieren können.“

Simone: Ist da nicht die Coronakrise auch ein sehr gutes Beispiel dafür? Ich denke es wird eine Menge getan um die Symptomatik möglichst einzudämmen. Der Kampf gegen das Virus wird ausgerufen, aber hintergründige Gedanken und Strategien sind zumindest im politischen Raum sehr rar gesät.

Gabi: Ja, es hat viel damit zu tun, weil Menschen aus Angst heraus die Kontrolle behalten wollen oder sich in Sicherheit wiegen wollen. Das sind zwei Punkte: Sicherheit und Kontrolle haben wir nicht.

Wer sind wir denn? In so einem komplexen System wie Leben, wie Erde, das ist alles miteinander verwoben und abhängig in wechselseitiger Beziehung. Wie können wir uns überhaupt überlegen so was zu kontrollieren. Das ist unmöglich.

Immer wieder in der Geschichte kriegen wir mit, dass wir das nicht können. Und dennoch probieren wir es immer wieder. Das ist das alte, mechanistische Weltbild linear zu sehen: „Da ist was, also gehen wir es an und bekämpfen oder reparieren es.“ Doch ein lebendiges System kannst du nicht reparieren. Du kannst die Erde nicht reparieren, die jetzt Hitzewallungen hat oder Fieber bekommt. Das geht nicht, das ist ein lebendiges System. Was wir machen können sind die Selbstheilungskräfte der Erde zu unterstützen, darin können wir uns üben.

Simone: Wie würdest du das nennen, wenn es nicht mehr um das mechanistische Weltbild geht, was kommt? Was ist die Transformation die die Menschheit jetzt braucht oder bräuchte um nochmal die Kurve zu kriegen?

Gabi: Das ist eine Revolution im Bewusstsein, also ein Bewusstseinswandel. Das ist eine innere Haltung, die sich ändern kann! Das ist doch das wunderbare, wir können unsere Haltung, unser Bewusstsein ändern. Da spreche ich nicht davon, dass wir uns ein neues Bewusstsein einverleiben müssen, dass wir erst ganz viel lernen oder wissen müssen. Dieses Bewusstsein haben wir alle mit bekommen und das liegt ganz innen drin in uns, bildlich gesprochen.
Diese Wiederentdeckung, dieses Rückverbinden zu deiner innen liegenden Weisheit, zu dem Bewusstsein, was schon transformiert ist. Das muss ich gar nicht transformieren.

Wir sind hier in dieser Gesellschaft so gewöhnt an dieses mechanistische, lineare Denken und es ist ungewohnt vernetzt zu denken und so zu handeln.

Wir sind eher auf Konkurrenz trainiert. Dabei geht es eher darum miteinander zu kooperieren, etwas aufzubauen, etwas weiter zu entwickeln.
Ein Beispiel dafür sind die Kraniche, die fliegen meistens in einer V-Formation. Dabei fliegt immer eine vorne und bekommt am meisten Wind ab. Aber die Positionen wechseln durch und sie geht auch wieder nach hinten und lässt sich durch die anderen vor dem Gegenwind schützen.

Simone: Ja, schönes Beispiel. Das Ökodorf Sieben Linden ist sicherlich auch ein Beispiel für Kooperation. Wir leben hier seit 24 Jahren zusammen, nicht immer ohne Gegenwind und manchmal haben wir uns auch schon ganz gut gegenseitig den Wind aus den Segeln genommen, aber wir fliegen weiter und ich denke da ist viel Kooperation und eben ein gemeinsames Ziel nötig.
Gabi hast du eine konkrete Übung oder eine Idee, wie diese transformative Kraft geweckt werden kann? Vielleicht etwas einfaches, was man auch zuhause nachvollziehen und für sich selber üben kann.
Vielleicht kannst du ein paar Methoden darstellen aus der Tiefenökologie, sodass der Ansatz einfach ganz konkret wird.

Gabi: Ich kann die Landkarte der Tiefenökologie vorstellen: die Spirale.
Eine Spirale ist ein wunderbares Symbol, es geht immer rund und kommt aber nie da an wo es los gelaufen ist. Denn wenn wir sagen: „Ich bin genau wieder an dem selben Punkt, wo ich letztes Jahr war oder in meiner letzten Beziehung war und ich lerne auch nie was dazu.“
Dann ist das nicht ganz richtig, denn ich komme immer wieder ein bisschen woanders an, weil ich mich entwickelt habe, weil ich mich wandle und weil natürlich mein Mitfeld, meine Umgebung sich wandelt. Und von daher haben wir für die Landkarte der Tiefenökologie die Spirale gewählt als Symbol. Und auf dieser Spirale gibt es vier Punkte und ich lade dich jetzt ein zu einer kleinen Übung.

Simone, wenn ich dich jetzt frage oder dich als Zuhörende: „Für was bist du dankbar? Wo spürst du Dankbarkeit in deinem Herzen?“ Dann nimm das allererste was dir in den Sinn kommt. Das kann etwas ganz Großes sein oder es kann etwas ganz Kleines sein, es kann etwas sein was dir gerade eben passiert ist oder etwas das schon länger zurück liegt. Was kommt dir da in den Sinn?

Simone: Mir kommt was ganz großes in den Sinn, das sind vier gesunde, fitte, fröhliche Kinder, denen mein Partner und ich das Leben schenken durften. Und mir kommt auch was ganz kleines in den Sinn, das habe ich schon in der Kindheit von meiner Mutter gelernt..
Ein Ritual bei uns war ganz oft abends, dass wir danke gesagt haben dafür das wir so schön kuschelig weich und sicher und warm in unseren Betten liegen. Und das habe ich abends immer noch oft dieses Gefühl aus der Kindheit, das ist total normal und es ist nicht selbstverständlich so ein sauberes, weiches Bett. Und du Gabi bist du auch dankbar in diesem Moment?

Gabi: Was mir als erstes kam war: Ich hatte gerade eben ein längeres Gespräch mit einem Freund, wir haben uns jetzt lange nicht gesprochen. Ich bin so dankbar über Freundschaften, Freundschaften mit Menschen auch wenn ich sie länger nicht spreche oder sehe und dann gleich wieder so anzudocken. Und die mir und uns wichtigen Themen dann wieder anzusprechen oder auszutauschen und uns da so nah zu sein.
Ach, ich bin über vieles dankbar und ich unterstelle jetzt mal, dass du als Zuhörende auch irgendwas hast, wo du sagst: „Oh, dafür bin ich dankbar.“ Und das es nichts ist was du kaufen kannst, wo du ins nächste Geschäft gehst und was du dir erwerben kannst. Natürlich kannst du auch dankbar sein für deine neuen Schuhe, dein neues Handy, etwas was du kaufen kannst. Doch das ist nicht das was den Menschen als erstes einfällt, wenn ich die Frage stelle und die frage ich jetzt schon seit 25 Jahren in meinen Kursen. Ich finde das ist „Active Hope“.

Simone: Das sind ideelle Dinge, die die Menschen bewegen, Freundschaft, Liebe, Familie, das Zwischenmenschliche.

Gabi: Das ist das was mir immer wieder die Hoffnung gibt, diese gelebte Hoffnung von: „Hey, wenn du Menschen fragst, dann geht es als erstes um die Beziehungsebene.“ Für was sind sie dankbar, das ist das aller wichtigste. Und diese Beziehungsfähigkeit, die wir mitbekommen, das ist das was uns in der Tiefe auch nährt und uns immer wieder tief dankbar sein lässt. Das schöne ist, wenn wir das austauschen und das kannst du auch gerne mit deiner Familie, Partner*innen, Freund*innen immer wieder fragen und austauschen. Weil das was du gesagt hast Simone, dafür bin ich auch dankbar, im abends warm und kuschelig im Bett zu liegen, mit so vielen Kindern hier aufzuwachsen.

Deshalb nimm es mit, wenn es dich anspricht, und frag es und tauscht euch aus immer wieder:
„Für was bist du dankbar.?“

Simone: Ist Dankbarkeit der erste Punkt auf der Spirale der Tiefenökologie die du eben begonnen hast zu skizzieren?

Gabi: Genau, deswegen auch diese kleine Übung. Dankbarkeit ist der erste Punkt und das ist die Grundlage, das Erden, das Ankommen. Ja das Settlen, das hat was mit erden zu tun, das hat etwas damit zu tun dankbar zu sein überhaupt zu leben und diese Beziehungsfähigkeit.

Denn dann kommt der zweite Punkt auf der Spirale der Teifenökologie und der heißt Würdigung von Schmerz in der Welt.
Also Würdigung von starken Gefühlen in der Welt, die SOS-Signale sind, die uns etwas sagen wollen, etwas zeigen wollen. Es ist gut, wenn wir uns nicht davon abschneiden und die verdrängen und die durch Konsum wegschieben wollen. Weil die schlimmste Krankheit ist wenn du apathisch wirst, wenn du nicht mehr am Leben teilhaben kannst. Wenn du ohnmächtig geworden bist und dir zusammengefallen bist, du nur noch funktionierst. So ist menschliches Leben nicht gedacht.

Wir sprühen vor Kreativität, vor Begeisterung und wir wollen uns ausdrücken. Und da hindert uns oft daran, dass wir spüren, dass irgendwas nicht stimmt in dieser Welt. Das irgendwas unsere Aufmerksamkeit anzieht wo wir merken: „Oh, ne das tut mir weh oder das macht mich traurig.“

Diese Trauer zuzulassen, diesen Schmerz zuzulassen und den Deckel innerlich zu heben, dass diese Gefühle gezeigt und ausgedrückt werden können. Und dann die Erfahrung zu machen, dass deine Kreativität, deine Kraft, dein Mut, dann unten drunter liegt, der gedeckelt ist durch diese starken Gefühle, die keinen Platz bekommen und sich nicht zeigen dürfen.

Simone: Also es geht in der Tiefenökologie nicht darum möglichst schnell in Aktion zu gehen, politisch zu Handeln oder sein Leben umzukrempeln. Sondern der erste Schritt der Tiefenökologie ist erstmal alle Gefühle zuzulassen und zu fühlen. Du hast das doch schon oft gemacht Gabi und bist immer wieder ins Handeln gekommen und eine optimistische Person geblieben.

Gabi: Der erste Schritt ist wahrzunehmen, was in mir los ist. Also die innere Ökologie.
Das heißt nicht, dass ich erst durch alle Methoden durchgehen muss und dann ins Handeln kommen. Weil wenn ich irgendwas erkannt oder gefühlt habe in mir, dann kommt oft eine Lust oder Reaktion von: „Jetzt weiß ich was der nächste Schritt ist in meinem Leben.“

Von daher wenn ich jetzt zum dritten Punkt der Spirale komme, der heißt Bewusstseinswandel oder Standortwechsel. Und das heißt mit anderen, neue Augen auf die Dinge zu schauen. Oder sich in eine andere Ecke zu stellen und dann mal zurück zu gucken.
Also wie die Indigenen sagen: „Ich kann den anderen erst verstehen, wenn ich seinen Mokkassins gelaufen bin.“

Also einen Standortwechsel machen. Das hängt damit zusammen, dass wir oft wenn wir durch starke Gefühle durchgegangen sind – und das kennt jede von euch die jetzt zuhört – So ein Aha-Erlebnis haben, ein „jetzt habe ich verstanden“, aber nicht nur im Kopf, sondern Kopf und Herz kommen zusammen. Also wenn wir den Körper wieder mitnehmen.

So wunderbar, oder? Dass wir nicht nur einen Kopf haben, sondern auch einen Körper. Mit allen Sinnen können wir wahrnehmen und es ver-stehen und be-greifen, mit unserem Körper.

Simone: Es klingt auf jeden Fall nach einer sehr ganzheitlichen Herangehensweise, dass der Mensch eben durch diese Krisen, nicht nur mit Verstehen, Denken, Politik durchgehen kann, sondern indem wir uns voll und ganz einbringen.

Gabi: Voll und ganz einbringen, ja genau. Aber Tiefenökologie bedeutet auch wahrnehmen wo ist meine Grenze gerade.
Also voll und ganz einbringen heißt nicht, immer mit offenem Herzen rum zu rennen und zu sagen: „So, allen Schmerz und alle Trauer zu mir“
Darum geht es nicht, es geht darum wieder in deinem Rhythmus zu leben. Also wie alles Leben Rhythmus hat, einatmen – ausatmen, aufmachen – zumachen. Und so auch wieder wahrzunehmen wann bin ich bereit und offen und schau mir das an. Und bin auch bereit, dass der Schmerz mich erreicht und dieses SOS-Signal und auch gespannt: „Okay, wie reagiert denn mein Bewusstsein darauf?Wie transformiert sich das in Mut oder in Handeln?“

Das hört sich jetzt sehr theoretisch an, weil Tiefenökologie ist etwas das man erleben muss. Es gibt ganz viele Übungen, die unser Wissen dann in den Körper bringen, die ins Erleben führen.

Der vierte Punkt auf der Spirale heißt dann: Weitergehen, zum Handeln kommen, der nächste Schritt: „Was steht an?“.

Simone: Ich denke das kann was im persönlichen Leben sein, was möchte ich bei mir ändern in meiner Ökobilanz, in meinen Beziehungen. Aber es kann sicherlich auch gesellschaftlicher Aktionismus sein. Also das was eben für den einzelnen Menschen gerade ansteht.
Ja, ich finde es einen sehr nachhaltigen Ansatz, denn ausgebrannte Aktivist*innen kennen wir alle. Oft junge Leute, die durch die Situation auf der Welt so angespornt werden, sich wahnsinnig – letztendlich in ein Burnout – einzubringen. Das haben wir öfter erlebt und das ist nicht nachhaltig.

Das finde ich einen schönen Ansatz in der Tiefenökologie eben auch die innere Ökologie und die Selbsterhaltung, die Selbstliebe und den Körper mit rein zu nehmen.

Gabi: Genau und es ist so individuell, wie es Menschen gibt. Und so individuell sehen dann auch die Handlungsschritte aus. Die einen machen dieses, die anderen machen das und alles hängt damit zusammen: „Bist du verbunden mit dir? Spürst du die Verbundenheit mit dir, aber nicht nur mit dir sondern mit allem was lebt?“ Das ist die Grundlage des Lebens und wenn du dir ein Fischernetz vorstellst und diese ganzen Knötchen, die da drin sind. Stell dir vor jeder Mensch, jedes Wesen ist so ein Knötchen und du wackelst an diesem Knötchen und das ganze Netz wackelt. Und wenn nichts wackelt, dann wackelt auch das Netz nicht. So bist du wirksam in diesem ganzen Lebensnetz, wenn du etwas tust und wenn du nichts tust. Also alles wirkt.
Diese Verbundenheit zu allem, das ist die Grundlage des Lebens und das ist auch das was uns immer ins Handeln kommen lässt. Also jenseits von meinem Ich, von meinem Selbst, in dieses Größere hinauszugehen.

Das ist ein Übungsweg und da brauche ich nicht warten bis ich erleuchtet bin und dann erst zu handeln. Sondern mit allen Fehlern die ich mache, in die ersten, nächsten Schritte kommen.

Simone: Ein Meilenstein auf deinem eigenen Übungsweg war Joanna Macy, die auch die Begründerin der Tiefenökologie ist. Was kommt dir als erstes in den Kopf, wenn du an Joanna denkst?

Gabi: Begeisterung! Sie ist so eine sprühende Person und ich dachte am Anfang, als ich sie das aller erste Mal erlebt habe: „So, ich bin jetzt gewappnet als Aktivistin. Okay, wie retten wir die Welt? Wie geht das jetzt?“ Und sie kam und sagte in der Konferenz: „Ist es nicht wunderbar in dieser Zeit zu leben? In dieser Zeit wo sich alles wandelt, so schnell wandelt und wir mittendrin. Und wir als Menschen, als bewusstseinsreflektierende Wesen haben die Wahl an dem Wandel mitzuarbeiten. Wir haben die Wahl, wir können entscheiden, wir können mitkreieren.“

Und ich dachte da nur: „Okay, so habe ich das jetzt noch nie gesehen. Dankbar zu sein für diese Zeit, in der ich lebe.“ Sondern ich dachte immer es ist so heftig was da alles passiert.

Und das ist nun schon 25 Jahre her und es wird immer heftiger. Trotzdem ist das was mich an ihr begeistert ihre Begeisterung und dieses „Wow, ist es nicht schön zu leben auf diesem wunderbaren Planeten?“
Und es ist so wichtig in diesem Moment jetzt zu sein und das Leben zu genießen, weil mehr als diesen Moment haben wir nicht.

Simone: Ja, sie strahlt das wirklich selber aus. Sie ist wirklich eine betagte Dame und war es auch schon als sie vor etlichen Jahren mal in Sieben Linden war. Das war auf jeden Fall ein großer Moment in der Sieben Linden Geschichte, als wir Joanna Macy zu Gast haben konnten. Und da könnte man natürlich jetzt noch ewig zu erzählen, zu eurer Zusammenarbeit auch. Aber ich denke wir lassen es für heute damit gut sein. Und wir verweisen damit auf deine Webseite Gabi, dort finden sich viele Literaturempfehlungen und man kann Texte von dir und Joanna lesen. Und wir sprechen natürlich eine Einladung aus, denn unsere nächstes Seminarjahr 2022 beginnt auch ziemlich bald mit Tiefenökologie.

Gabi: Wenn dich das jetzt inspiriert hat oder du denkst: „Hä, ich verstehe eigentlich überhaupt nichts.“ und willst das mal ergründen, also tief die Wurzel ergründen. Dann komm doch!
Im Februar oder im Juni habe ich hier Einführungsseminare oder schau auf meiner Homepage gabibott.de, da stehen auch andere Orte drauf und er-lebe es. Was auch ganz wichtig ist, ist Weggefährten und Gefährtinnen zu haben. Wir kriegen diesen Wandel, diese Transformation nicht alleine hin. Das geht nicht als Einzelkämpfer oder Kämpferin. Wir brauchen uns gegenseitig.

Simone: Eine weitere Möglichkeit ist mit Gabi einen Onlinekurs zu erleben, den man sicher auch mit Weggefährt*innen gemeinsam buchen kann, der wird hoffentlich im April dann auch verfügbar sein.
Und ja auch einfach die Ermutigung, auch an diesen Themen dran zu bleiben. Den Schmerz zu erleben, nicht weg zu gucken und daraus wirklich wieder Kraft und Hoffnung zu schöpfen.
Gabi, was wünschst du denn den Leuten fürs neue Jahr?

Gabi: Auf jeden Fall Gesundheit: Körper, Geist und Seele. Guckt auf euer Immunsystem und stärkt es.
Ja, bleibt gesund seid gesund. Und ich wünsche euch Mut und Radikalität – Radikalität im Sinne von radikal die Wurzeln zu ergründen, also ohne Gewalt, aber tief zu gehen.

Simone: Ich schmeiß zu deinen Wünschen noch die Lebensfreude dazu. Ich wünsche tatsächlich, dass wir immer wieder das Licht sehen auch in dieser Zeit und aufs positive gucken. Kopf hoch!

Danke fürs Gespräch.

Gabi: Danke dir Simone.

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