Klassengemeinschaft? Zweiklassengemeinschaft? Zweiklassenbildungssystem?

„Ey Junge, kommst du hier her, ich geb‘ dir ein Knockout. Digga, Adrian, wenn du jetzt weiter lachst, kommt eine Schere geflogen oder ich drück‘ deinen Kopf auf den Tisch.“ 

Willkommen zur Live-Schaltung einer Projektwoche in einer 5. Klasse an einer Sekundarschule in der Altmark. „Gemeinsam Klasse sein“ – ein Mobbingpräventionsprojekt, das ich dort im Rahmen meiner Tätigkeit als Schulsozialarbeiterin durchgeführt habe.

Ich war geschockt und überrascht von dem rauen Ton unter den Schüler:innen und dem andauernden Gefühl im Klassenraum, dass hier niemand irgendwem was gönnt und alle in einer dauerhaften Habacht-Stellung sind, jetzt dem Nächsten eins reinzudrücken. Meine pädagogischen Grenzen waren deutlich überstrapaziert und ich hatte keine schnelle Antwort auf die Frage „Was braucht diese Klasse, so dass zumindest ein Funken von Klassen-„gemeinschaft“ entsteht?“

Gemeinschaft…? Sieben Linden, der Ort wo ich wohne, ist eine Gemeinschaft. Eine Lebensgemeinschaft. Ich lebe hier, weil mir ein soziales Miteinander in meinem direkten Umfeld wichtig ist und ich glaube, dass es die Welt lebenswert macht. 

An der staatlichen Schule, an der ich arbeite, erlebe ich eine völlig andere Realität. Dort erlebe ich keine Gemeinschaft. Es fehlt in der gesamten Schülerschaft und auch unter den Lehrkräften an Vertrauen, Unterstützung und ehrlichem Miteinander. Das erlebe ich nicht nur bei einer Projektwoche in der 5. Klasse. Das ist mein Arbeitsalltag. 

Für mich ist es eine tägliche Herausforderung meinen Arbeitsalltag in der Schule mit dem Leben in Sieben Linden, übereinander zu legen. Die beiden Realitäten scheinen so weit voneinander entfernt, obwohl nur wenige Kilometer dazwischen liegen.

Das staatliche Bildungssystem ist mitten in einer Krise angekommen: Die Schulleitung ist froh, wenn sie mit dem kleinen Kollegium für alle Klassen jeden Tag den Unterricht abdecken kann. Immer wieder bleiben Klassen wegen Lehrkräftemangel zuhause. Als Mitarbeitende im staatlichen Schulsystem ist man eigentlich jeden Tag nur dabei zu versuchen, das hinkende System zu halten. Und zwar so, dass alles möglichst glimpflich über die Bühne geht. Und wenn die Jugendlichen dann noch ein bisschen Mathe oder Deutsch mitgenommen haben, ist das ein voller Erfolg. 

Ein von mir angeleiertes Mobbingpräventionsprojekt, wo es auch um die Stärkung der Klassengemeinschaft geht, klingt da erstmal nach einer guten Sache. Es scheiterte dann aber an dem Fehlen eines grundsätzlichen Verständnisses von sozialem Miteinander. Es gab keine Grundlage von Klassengemeinschaft und sozialem Miteinander, an das ich mit meinem Projektinhalt anknüpfen konnte. Ich hätte von Null anfangen müssen. Das wiederum gestaltet sich in einer 5. Klasse schwierig, wo sich bei einigen bereits die Pubertät meldet und sich verschiedene Dynamiken, Werte und Verhaltensweisen von Elternhäusern und Umfeld gut eingeschliffen haben. Anders wäre das in einer 1. Klasse oder im Kindergarten. Nach der Projektwoche hatte ich große Zweifel, ob die Inhalte überhaupt bei irgendwem in der Klasse angekommen sind. Für ein Präventionsprojekt war es in der Klasse schon zu spät, es hätte ein Interventionsprojekt gebraucht. Vielleicht zwei Wochen irgendwo auf einem Zeltplatz, gemeinsam Kochen, viel Aktivität draußen, kein Unterricht, nur soziales Erleben und Miteinander. 

Und wie sieht es in Sieben Linden aus? Die meisten Kinder, die in Sieben Linden aufwachsen gehen nicht auf die staatlichen Schulen, sondern auf freie Schulen im Umkreis von 25-45 km.

Freie Schulen können gute pädagogische Konzepte haben, wo die Kinder Spaß am Lernen haben, soziale Kompetenzen lernen, zumeist auch schon einiges an sozialen Kompetenzen von zuhause mitbringen und nach einem Wertekanon leben, wie wir ihn uns für unsere Gesellschaft wünschen. 

An staatlichen Schulen fehlt sowohl die Zeit und als auch stellenweise der Horizont und Idealismus einzelner Mitarbeitenden und vor allem der Schulleitungen, sich über innovative Ideen, alternative Bildungs- und Lernformen, Gedanken zu machen. Rein rechtlich sind Reformen der Unterrichtsgestaltung und reformpädagogische Konzepte möglich. Die Frage ist nur: Wer hat die Zeit sich darüber Gedanken zu machen und Veränderung anzuschieben, wenn man als Mitarbeitende im staatlichen Schulsystem, wie oben bereits beschrieben eigentlich jeden Tag nur dabei ist zu versuchen, das hinkende System zu halten?

Alternative Konzepte kleiner freien Schulen sind also fein für die, die es sich leisten können, ihre Kinder dorthin zu schicken. Sie sind aber derzeit nicht adaptierbar auf das gesamte Bildungssystem.

Es bleibt also bei einer Trennung zwischen denen, die es sich finanziell und intellektuell leisten können, ihre Kinder auf freie Schulen zu schicken und jenen, die auf die Bildung angewiesen sind, die das staatliche System bereithält. Sicherlich könnten sich auch meiner Sekundarschule einige Familien den Besuch ihrer Kinder an einer freien Schule finanziell leisten. Es fehlt nicht nur am Geld, sondern auch an dem Bewusstsein darüber, dass es Alternativen gäbe. 

Im Ökodorf sind wir privilegiert damit, dass wir uns über unsere eigene Lebenswelt sowie darüber hinaus, Gedanken machen können und diese dann aktiv gestalten.

An dieser Stelle taucht bei mir die Frage auf: Welche Verantwortung tragen wir als Ökodorf beim Thema Schulbildung in unserem direkten regionalen Umfeld?

Als Sozialarbeiterin liegt es mir am Herzen, dass alle Kinder und Jugendlichen ganz unabhängig von ihrer sozialen Herkunft den Zugang zu guter, kostenloser und lebensweltnaher Bildung haben. Davon scheinen wir aber weit entfernt zu sein. 

Ich gehe weiter in mein Büro an der Sekundarschule, versuche dort im Kleinen etwas zu verändern und mein Bestes zu geben und lasse euch etwas ratlos zurück.

Greta Meyer

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